Zwischen Euro und FDP: Merkels Kampf mit der CDU-Basis
Angela Merkel steht unter Beschuss: Die Griechen, der Euro, die FDP. Es kommt Hart auf Hart für die Kanzlerin. Darum ist sie jetzt in Deutschland unterwegs, will die Parteibasis von ihrem Kurs überzeugen – die aber erweist sich als widerspenstig.
Sie hat sich ins Zeug gelegt wie vielleicht noch nie. Sie hat das Europa Konrad Adenauers beschworen, „zu unserem Glück vereint“, und das Europa Helmut Kohls: „Früher ist das eine Frage von Krieg und Frieden gewesen.“ Sie hat das Europa von heute beschworen, 500 Millionen Menschen, nur gemeinsam sind wir stark, die 80 Millionen Deutsche sind gerade mal 2,3 Prozent der Weltbevölkerung: „Wenn wir auf der Welt was ausrichten wollen, werden wir das mit unseren 2,3 Prozent mit Sicherheit nicht schaffen!“ Sie hat von den Finanzmärkten erzählt, die dieses Europa austesten: „Jetzt wolln wa doch mal sehen, halten die auch in einer schwierigen Situation zusammen?“ Sie hat die gut 1300 Gesichter da unten in der Hessen-Halle beschworen: „Darum geht’s: Wollen wir uns wieder zertrümmern lassen in Einzelteile?“ Sie hat anerkennenden Applaus bekommen. Doch dann rollt Otto Hahn seinen Rollstuhl zum Saalmikrofon. „Sie haben eine grundsätzliche Rede gehalten, die man in jeder Hinsicht bejahen muss“, sagt der alte Herr. „Aber es geht jetzt um die Krise, die sich in den 17 Euro-Staaten eingebürgert hat.“
Nix Europa – unser Geld! Angela Merkel blickt nach unten und macht sich Notizen. Dass die sechs Regionalkonferenzen mit der Parteibasis diesmal keine Jubel-Arie werden würden, war bereits allen klar, als die CDU-Vorsitzende sich vor Monaten die Tournee verordnet hat. Doch für die Kanzlerin geht es inzwischen längst um mehr. In dieser zugigen Ausstellungshalle in Alsfeld im oberhessischen Niemandsland stellt sich für Angela Merkel die Vertrauensfrage.
Die Antwort, um das gleich vorweg zu nehmen, fällt etwas gemischt aus. Aber inzwischen ist selbst das für Merkel ein Lichtblick. Seit die Troika der Griechenland-Prüfer aus Athen abgereist ist, weil die Dinge dort nicht so liefen, wie es Europa von seinem größten Schuldensünder erwartet, ist die Krise endgültig in Berlin angekommen. Man braucht nur die Schlagzeilen dieser Wochen zusammenzulegen: Zweifel an Mehrheit der Koalition. Obama mahnt Europäer. Kohl vermisst Kompass. Rating-Agentur stuft Italien herab. Wissenschaftler kritisieren Regierungskurs. Und zuletzt die Querschüsse aus dem, was man sich kaum noch die eigenen Reihen zu nennen traut: Philipp Röslers „geordnete Insolvenz“, Horst Seehofers Griechen-raus-aus-dem- Euro-Gedankenspielereien. So massiv war das Feuer, dass einer der Wichtigeren in der Union angefangen hat, sich um Merkel zu sorgen: „Manchmal tut sie mir schon leid.“
Das war gut gemeint. Aber Mitleid ist so ungefähr das Letzte, was eine Kanzlerin in Bedrängnis brauchen kann. Sie hat es wahrscheinlich auch nicht nötig. Doch dazu später.
Hier bei den Ihren nützen diese Zänkereien der CDU-Chefin sogar. Im Landesverband Hessen zählt Loyalität noch etwas, bei den Thüringern auch. Ernst-Hubert von Michaelis, Ex-Bürgermeister im nordhessischen Arolsen, zählt empört die Unbotmäßigen auf: Die Ramsauers, Seehofers, Röslers. „Wenn die Akteure doch mal wenigstens vier Wochen an einem Strang ziehen würden!“ Hermann Kurz aus dem thüringischen Jena-Lobeda schimpft unter beifälligem Gemurmel des ganzen Saals über den Vizekanzler: „Dass ein 38-jähriger promovierter Mediziner ein ganzes Land infrage stellt, das kann nicht sein!“ Dem müsse die Kanzlerin „in die Parade fahren“.
Merkel hat keine andere Wahl, als an der FDP festzuhalten. Lesen Sie auf Seite 2 warum.
Nun haben sich vorige Woche selbst sehr ruhige und bedachte CDU-Politiker bei dem grimmigen Gedanken ertappt, wie schön es wäre, wenn man diese durchgeknallte FDP vor die Tür setzen könnte. Doch Merkel schiebt derlei Erwägungen gleich einen Riegel vor. Das schwarz-gelbe Bündnis habe auch mal Probleme, aber ein besseres sehe sie nicht, und überdies: „Wir haben elf Jahre dafür gekämpft!“
Unten im Saal löst das energische Plädoyer auf dem einen oder anderen Gesicht gelinde Verblüffung aus. Aber Merkel weiß, was sie da tut. Sie kann gar keine Regierungskrise riskieren – wenn ein leichtfertig über Insolvenz redender Philipp Rösler die Finanzmärkte bewegt, was würde dann die Aussicht auslösen, dass die stärkste Euro-Nation ein paar Monate wegen Wahlkampf ausfällt? Und was, außer dem Machtverlust, käme für die CDU-Chefin dabei heraus? Merkel ist eingemauert in ihr Bündnis und von ihm abhängig, ob es ihr passt oder nicht.
Es ist nur einer der vielen Zwänge, die diese Krise so ganz einzigartig machen. Es hat schon Koalitionskrisen gegeben, auch Krisen Europas sind nicht neu. Neu ist, dass das alles gleichzeitig kommt. Merkel ist zum Beispiel auch abhängig von Griechenland, von der Regierung in Athen bis zum kleinen Finanzbeamten, der streikt, statt Steuern einzutreiben. Sie muss Rücksicht nehmen auf die Finanzmärkte mit all ihren Irrationalitäten. Und sie weiß das, anders als der schon erwähnte Philipp Rösler. Der hat ein paar Tage lang herumerzählt, er als Politiker könne sich doch nicht von Märkten abhängig machen. Das war etwa so intelligent wie die Bemerkung des Bergsteigers, was schere ihn die Schwerkraft.
Merkel hat das mit anhören müssen. Sie hat zusehen müssen, wie der junge Mann sachte Ermahnungen beiseite schob und sich weiter gebärdete, als wäre er in der Opposition. Und es gibt Hinweise darauf, dass auch sie sich ernsthaft Sorgen gemacht hat, dass die Euroskepsis der FDP nützt. Als sich am Sonntagnachmittag abzeichnete, dass der Trick in Berlin nicht verfangen hat, war das Aufatmen allenthalben spürbar. Seither decken Merkel und ihre Leute die Lesart, der Philipp sei „kein Populist“ und von Berliner Landesparteifreunden auf den falschen Weg getrieben worden.
Das ist also noch mal gut gegangen. Trotzdem hat diese Chaos-Woche wieder massiv Substanz gekostet. So wie die zwei Jahre verunglückter Wunschkoalition massiv Substanz gekostet haben. Der CDU-Generalsekretär hat die Basis hier nach Alsfeld ja noch mit dem Ziel eingeladen, vor dem Parteitag im November den Unmut über ganz andere Themen abzufedern: die Abschaffung der Wehrpflicht zum Beispiel oder die Atomwende.
Beides wirkt heute wie Geschichten aus einer lange vergessenen Zeit. Die hier im Saal haben es nicht vergessen. Volker Bouffier hat die Stimmung schon eingangs umrissen: „Die Partei fühlt sich gestresst.“ Und, hat der hessische Ministerpräsident hinzugefügt: „Ich kann das gut verstehen.“ Sein Fraktionsvorsitzender Christean Wagner weist später auf das scheinbare Paradox hin, dass es dem Land so gut gehe wie selten zuvor, der CDU aber nachhaltig mittelmäßig: „Wir sind erfolgreich, aber unglücklich.“ Was, sagt Wagner, daran liege, dass die CDU in den letzten zwei Jahren zu viele Grundsatzpositionen geräumt habe, jetzt zuletzt sogar in Sachen Schulsystem.
Wagner ist mit seinem Unglück nicht ganz allein; auch ein Herr Stein vermisst „Linie“ auf der ganzen Linie. Merkel hat das vorausgesehen – schließlich schreibt Wagner ihr regelmäßig böse öffentliche Briefe – und in ihrer Eingangsrede versucht, eine Unterscheidung einzuführen zwischen Grundsätzen und konkreter Ausgestaltung: Die Wehrpflicht sei nach langer Debatte und mit breiter Mehrheit auf dem Parteitag ausgesetzt – trotzdem bleibe die CDU „die Partei der inneren und der äußeren Sicherheit“.
Der Saal schweigt. Die meisten hier sind ältere Semester. Ein Parteileben lang haben sie die Wehrpflicht gegen langhaarige Verweigerer verteidigt und die Kernkraft gegen langhaarige Sitzblockierer. Ja, die Welt hat sich verändert. Aber muss man das jetzt auch noch gut finden?
Was für die CDU-Basis schlimmer ist als der Atomausstieg und die Aufhebung der Wehrpflicht, lesen Sie auf Seite 3.
Trotzdem, der Phantomschmerz, den der Verlust der alten Gewissheiten hinterlassen hat, tritt in den Hintergrund gegen die neuen Sorgen. Die Euro-Krise wühlt die Leute nachhaltig auf. Bei jedem Treffen unter Parteifreunden, berichtet einer, sei das sofort das erste Thema. Der Bürgermeister von Michaelis, der sich so über die Dissidenten im eigenen Lager aufgeregt hat, stellt zugleich die Frage: „Was wird mit den Schulden?“ Klaus-Peter Willsch, der von Anfang an im Bundestag gegen jeden Rettungsschirm gestimmt hat, erntet viel sorgenvoll bedenkliches Kopfnicken für den Satz: „Außerhalb von Berlin treff’ ich keinen einzigen Menschen, der glaubt, dass die Griechen die Schulden zurückzahlen können.“
In solchen Sätzen liegt Sprengstoff, Merkel weiß das. Sie klingen so ungeheuer plausibel. Sie scheinen Schneisen zu schlagen in das unverständliche Durcheinander der täglichen Nachrichten von den Finanzmärkten. Merkel versucht dagegen zu halten: Woher Willsch denn wissen wolle, dass die Griechen nicht, zum Beispiel, genau den gleichen Wachstumspfad beschreiten könnten wie die Türken? Die waren vor etlichen Jahren auch mal Kunden in einem Sanierungsprogramm des Weltwährungsfonds, und es hat funktioniert.
Aber das ist eigentlich schon wieder viel zu fachlich. Die Leute da unten sind den Finanzmärkten gar nicht so unähnlich. Sie interessieren sich weniger für Erklärungen. Was für sie zählt, ist Vertrauen. Können sie der Frau trauen, die ihnen schon den Verzicht auf so viele Vertrautheiten zugemutet hat?
Merkel wirbt darum. Ihr bleibt ja auch nichts anderes mehr übrig. Wer sie in diesen Tagen trifft, öffentlich und in kleinerem Kreis, erlebt eine unaufgeregt Entschlossene. Schon als sie nach der ersten ernsten Krise der Koalition vor einem Jahr aus dem Sommerurlaub in den Dolomiten zurückkam, war anschließend viel von dem bloß Taktischen verschwunden, das die öffentliche Merkel im Vergleich zur internen immer als gezügelte Kunstfigur erscheinen ließ.
An der Merkel von Alsfeld ist weniger künstlich als je zuvor. Die kleinen Formulierungen nicht – das hingeworfene „wolln wa ma“, der lakonische Abriss der Entscheidungen in der Finanzkrise: „Wenn man das damals nicht in einem Affenzahn gemacht hätte ...“ –, die Gestik auch nicht: Mit der rechten Hand erklärende Gestik in der Luft, linker Daumen in der Hosentasche, das Jackett beult sich, gibt keine eleganten Fotos, egal. Es ist so vieles egal inzwischen. Der Euro ist ihr Schicksal. Wenn das alles gut geht, gewinnt sie vielleicht die nächste Wahl trotzdem nicht mehr. Aber vielleicht ist ihr selbst das ziemlich egal.
Die Diskussion ist schon ziemlich fortgeschritten, da gestattet die Bundeskanzlerin ihrer Partei einen Blick in ihre Werkstatt. Alles ist angesprochen worden – ob wir unser Geld je wiedersehen, ob nicht eine Insolvenz der Griechen der einzige Weg ist, ob man das nicht alles ganz anders machen muss. Nein, sagt Merkel, kann man nicht. „Das ist ein schwieriger Weg. Auch ich finde, dass das schwierig ist.“ Alle seien sie Lernende. Darum gehe es nicht anders als Schritt für Schritt. „Wenn es eine Lösung gibt, deren Folgen ich nicht überblicken kann, kann ich die Verantwortung nicht übernehmen. Das ist der Kern der Sache.“
Es ist jedenfalls der Kern ihrer Sache. „Sie sagen immer, was nicht geht“, raunzt sie den Rebellen Willsch an. Alle geben ihr Ratschläge, die Wissenschaftler – jeder einen anderen natürlich –, die Röslers, die Seehofers, die Willschs. Keiner von denen muss es verantworten, wenn der Ratschlag hinterher falsch war. Alle können sie daherreden, weil ein Seehofer die Märkte nicht bewegt, eine Kanzlerin aber schon. „Das Problem muss an der Wurzel behandelt werden“, sagt die Kanzlerin. „Aber jetzt haben wir es mit den Sünden der Vergangenheit zu tun.“ Deren Folgen müsse man beseitigen. „Das ist etwas, was man sich gern erspart hätte“, seufzt Merkel. Aber andererseits, das Geschichtsbuch winkt: „Unsere Kinder und Enkel werden es uns danken.“