Niedergang der FDP: Versunken in der Bedeutungslosigkeit
Philipp Rösler sollte für den Neuanfang der FDP stehen. Doch die Liberalen taumeln von einer Katastrophe zur nächsten. Und keiner hat eine Idee, wie dieser Absturz aufzuhalten ist.
Es ist Donnerstag, und die FDP in Berlin hat noch keine Ahnung, wie tief sie drei Tage später abgestürzt sein wird. Sie feiert an diesem Abend erst einmal das Ende des Wahlkampfes. Es wird reichlich Wein und Bier ausgeschenkt im Atrium der FDP-Zentrale in Berlin-Mitte. Nach dem langen Weg durch immer tiefere Täler fasst man jetzt wieder Mut. Der neue Anti-Euro-Kurs: klare Kante im Endspurt, das macht was her. Wird schon werden. Eine Gruppe junger Leute aus dem Landesverband setzt sich in Positur, um kräftig klatschen zu können. Man ist nicht unter sich. Kein Geringerer als der Parteivorsitzende ist gekommen. Kamerateams an jeder Ecke. Auch der FDP-Vorsitzende spricht von einer Insolvenz der Griechen. Geordnet zwar, aber immerhin. Gleich wird er auf die Bühne gehen. Man erwartet Deftiges von ihm, die Fünf-Prozent-Hürde steht auf dem Spiel.
Philipp Rösler rutscht etwas unruhig auf seinem Stuhl in der ersten Reihe hin und her. Er ist erst vier Monate FDP-Chef, von den lokalen Parteigrößen, die um ihn herum sitzen, kennt er kaum jemanden. Er sieht ein wenig verloren aus. Wie einer, der ganz dringend auf ein Wunder hofft. Nervös zuppelt Rösler an seinem braunen Sakko herum. Erst raus das iPhone, dann wieder rein damit. Nochmal und nochmal. Vielleicht ruft ja einer an? Wichtiger Termin oder so. Unaufschiebbar, unvorhersehbar. Selbstverständlich müsste er sofort aufbrechen. Die Pflicht, Sie wissen ja, untröstlich, der Minister, der Vizekanzler. Noch ein paar Worte an die Wahlkämpfer? Natürlich gern, man ist ja schließlich Vorsitzender der FDP. Dann aber nüscht wie weg hier.
Doch es ruft niemand an. Nicht an diesem Donnerstagabend. Es ist wie verhext: Die FDP will und will einfach nicht aus dem Strudel der Katastrophen herausfinden. Immer tiefer sinkt sie im Ansehen der Bevölkerung, immer verächtlicher wird über sie gesprochen. Am Sonntag, bei der Abgeordnetenhauswahl in der Hauptstadt, ist sie schließlich richtig auf den Hund gekommen: 1,8 Prozent. Das ist Schützenvereinsniveau. Nicht mal der liberale Oberquerulant Wolfgang Kubicki aus Kiel weiß noch, was er dazu sagen soll. Nur zwei Adjektive presst er hervor: „unsouverän“ und „undurchdacht“.
Wie der Vorsitzende Philipp Rösler in der eigenen Partei bewertet wird, lesen Sie auf der nächsten Seite.
Der, den Kubicki damit meint, Philipp Rösler, steht an der Spitze dieser unglückseligen Partei. Er ist verantwortlich für alles, für die Siege, aber auch für die Niederlagen. Auch diesen 1,8 Prozent kann er nicht entfliehen. Wunder gibt es nicht, an Wunder darf ein Parteiführer wie er nicht einmal denken. Von ihm erwartet man – ja, was eigentlich? Dass er die neoliberalen Westerwelle-Zeiten vergessen macht und der Partei mit seinem mitfühlenden Liberalismus ein neues freundliches Antlitz verleiht. Aber Steuern soll er auch senken, den wirtschaftlichen FDP-Markenkern stärken. In der Euro-Krise soll er natürlich die eigene Bundesregierung stützen, aber auch ordnungspolitische Kante zeigen, wenn die CDU mal wieder mangelnde Solidität der Nachbarstaaten mit deutscher Solidarität zudecken will. Ach ja, und neue Wählerschichten soll Philipp Rösler auch für seine FDP finden. Und Wahlen gewinnen, selbstverständlich. Alles auf einmal, alles am besten sofort.
Philipp Rösler, 38 Jahre, Ehemann, Vater zweier kleiner Mädchen, das vergisst man in diesen hektischen Zeiten allzu schnell, war vor zwei Jahren noch einer, der seinen Arbeitstag hauptsächlich damit verbracht hat, Anträge für EU-Fördermittel auszufüllen. So zumindest beschreibt er selbst seinen Job als niedersächsischer Wirtschaftsminister. Wobei ein bisschen Sehnsucht mitschwingt, nach Hannover. Heile, überschaubare Welt, dieses Niedersachsen. Und mittendrin der junge Rösler: smart, gewinnend, ein flinker Denker. Einer, aus dem mal was werden könnte. Walter Hirche, sein politischer Entdecker, hat gestrahlt im Mai, als Rösler mit fast 100 Prozent zum Parteichef der FDP gewählt wurde. Die ganz große Karriere. Doch richtig überzeugt war er dann doch nicht, ob Rösler für dieses schnelle, raue Berlin schon taugt.
Letzte Woche wurden die Zweifel lauter. Als Vizekanzler muss Rösler die Koalition führen, als Wirtschaftsminister die Dauerkrise managen und obendrein als Parteichef auch noch die FDP erneuern: Das sind drei Vollzeitjobs. Drei neue Vollzeitjobs. Denn bis vor kurzem war Rösler ja noch Gesundheitsminister. Keine Erfahrung an der Spitze der Koalition, keine Erfahrung an der Spitze der Partei und keine Erfahrung an der Spitze des Bundeswirtschaftsministeriums. Allein dort 3500 Leute. Vielleicht ist das alles ein bisschen sehr viel für einen wie ihn, so jung, so unerfahren. „Biegsam wie ein Bambus“, der niemals bricht: Als Rösler das FDP-Spitzenamt übernahm – mehr gedrängt als angestrebt – zeichnete er von sich das Bild eines ausgebufften Politikers, den so schnell nichts umhauen wird. Mancher glaubte gar, der immer etwas leise sprechende Mann mit den asiatischen Gesichtszügen beherrsche hierzulande noch unbekannte fernöstliche Machtstrategien.
Lesen Sie auf Seite 3, wie Rösler die FDP mit der Forderung nach einer "geordneten Insolvenz" für Griechenland weiter ins Abseits manövrierte.
Doch solche Erwartungen schmelzen schnell dahin. Erst präsentierte Rösler im Sommer der Öffentlichkeit den schwarz-gelben Plan für eine Steuersenkung wie einen Skalp, den er der Bundeskanzlerin im harten Kampf abgerungen haben wollte. Das machte die Hoffnung zunichte, mit Rösler werde die FDP mehr sein, als nur „Mehr Netto vom Brutto“. Dann stellte Rösler Außenminister Guido Westerwelle bloß, ohne ihn aus dem Amt zu treiben. Und nun Röslers „geordnete Insolvenz“ für Griechenland.
Keiner der bisherigen Fehler des neuen FDP-Vorsitzenden ist so ins Gewicht gefallen. Keiner hat so viel Schaden angerichtet.
Erstens für die Koalition: Wie soll Schwarz-Gelb bei der ohnehin schon undurchsichtigen Euro-Rettung in Zukunft noch Vertrauen bei den Menschen finden, wenn der Vizekanzler den Eindruck vermittelt, die Regierung verschweige der Bevölkerung wichtige Entwicklungen in Griechenland und belege jeden, der den Menschen die Wahrheit sagen will, mit „Denkverboten“.
Zweitens für die Bundesregierung: Der Wirtschaftsminister der größten Volkswirtschaft Europas, der ohne ersichtlichen Anlass für eine Pleite eines Nachbarstaates eine solche in den Raum stellt, gefährdet nicht nur die Reformbemühungen des Pleitekandidaten und schürt dort Zweifel an der solidarischen Haltung Deutschlands. Ein solcher Wirtschaftsminister nimmt auch Schaden für deutsche Investoren in Griechenland in Kauf. Wer macht schon gern Geschäfte mit einem Partner, über dessen Pleite quasi regierungsamtlich in Zeitungsbeiträgen philosophiert wird?
Und drittens hat Röslers „geordnete Insolvenz“ auch ihm und seiner eigenen Partei geschadet. Weil sie längst vorhandene Ahnungen zu bestätigen scheint, nach denen die FDP anfällig für populistische antieuropäische Parolen sein wird, wenn sie in die Ecke getrieben ist. Rösler behauptet zwar nach dem Wahldesaster der Berliner FDP, die Verantwortlichen dort hätten die Euro-Kritik überzogen, er selbst habe daran gar keinen Anteil. Allerdings war das bereits Mitte vergangener Woche erkennbar. Spätestens am Donnerstag hätte der Parteivorsitzende die Gelegenheit gehabt, seine Parteifreunde in Berlin öffentlich und unmissverständlich in die Schranken zu weisen. Er hat es nicht getan.
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An diesem Montag hat der Spitzenmann der FDP aus Berlin, ein Herr Meyer, alle Schuld für das Wahldesaster auf sich genommen. Niemand in der FDP-Spitze hat dieser Erklärung laut widersprochen. Mit jeder anderen Analyse hätten die Liberalen auch ihren Parteivorsitzenden kritisch ins Visier nehmen müssen. Wohin das geführt hätte, darauf hat keine Geringere als die Kanzlerin hingewiesen. Aufgaben von „historischem Ausmaß“ lägen vor der Regierungen, sagte Angela Merkel. Dabei dürfe „nichts unternommen werden, dessen Auswirkungen wir nicht genau kalkulieren können“. Deutlicher fiel selten eine Warnung an die FDP aus, jetzt bloß kein Gemetzel in der Partei zu veranstalten.
Philipp Rösler steht an diesem Montag wieder auf der Bühne der FDP-Zentrale, und er sieht sehr ernst aus. Einen großen Plan zur Rettung der FDP wollte er eigentlich an diesem Tag vorstellen. Seinen Plan. Doch nun ist alles ganz anders. Die FDP, sagt Rösler, stecke in der „wahrscheinlich schwersten Situation seit ihrem Bestehen“. Und er atmet tief dabei. „Unsere Botschaften“, sagt er, „erreichen die Menschen nicht mehr.“ Wie es nun aber weiter gehen soll? Ingenieure und Naturwissenschaftler, junge Familien, aber auch Unternehmer und Selbstständige: Sie alle will Philipp Rösler nun mit etwas ansprechen, das er „neue Bürgerlichkeit“ nennt. Was das sein soll und worin sich die neue von der alten Bürgerlichkeit unterscheidet, das sagt er nicht. Die FDP, das wird an diesem Tag deutlich, hat ein Problem, das so schnell nicht behoben sein wird. Und Philipp Rösler sieht schon wieder so aus, als hoffe er auf ein Wunder.