Regierungserklärung zu Europa: Merkel will Weichen stellen für ein "Jahr der Umbrüche"
Angela Merkel fordert eine Neuausrichtung der EU-Finanzen, mehr Geld für den Grenzschutz und die faire Verteilung von Flüchtlingen. Deutschland könne es nur gut gehen, wenn es Europa gut gehe, sagt die Kanzlerin.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat in einer Regierungserklärung die Bedeutung Europas für eine mögliche schwarz-rote Bundesregierung betont. Europa stehe politisch und wirtschaftlich weltweit unter Druck, „europäische Unternehmen sind nicht mehr in allen Bereichen an der Weltspitze“, sagte Merkel am Donnerstag im Bundestag. Am Freitag will sie sich in Brüssel mit den übrigen EU-Staats- und Regierungschefs außer Großbritannien treffen, um über die EU-Finanzplanung nach 2020 und die Vorbereitung der Europawahl 2019 zu beraten. "Wir brauchen mehr europäische Antworten auf große, drängende Fragen unserer Zeit", sagte Merkel.
Deutschland könne es nur gut gehen, wenn es Europa gut gehe, sagte Merkel. „Prominenter stand Europa bisher in keinem Koalitionsvertrag.“ Wichtig seien insbesondere der Bereich Migration mit dem Kampf gegen Fluchtursachen, die Wirtschaftspolitik und die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Der Koalitionsvertrag sei ein klares Bekenntnis zu einem europäischen Arbeitsprogramm, sagte Merkel: "Wir brauchen einen neuen Aufbruch für Europa." Die Welt warte weder auf Deutschland, noch auf Europa, so die Kanzlerin.
Auf ihrem informellen Treffen wollen die europäischen Staats- und Regierungschefs über die Zukunft des Bündnisses beraten. In den nächsten Monaten müssten die Weichen gestellt werden für ein "Jahr der Umbrüche", so die Kanzlerin: Im März 2019 wird Großbritannien aus der EU ausscheiden, kurz darauf findet, ebenfalls im im Frühjahr, die Wahl des Europäischen Parlaments statt. Im Herbst wird die EU-Kommission neu besetzt, außerdem endet die Amtszeit von EU-Ratspräsident Donald Tusk. Merkel betonte die Notwendigkeit eines handlungsfähigem, solidarischem und selbstbewusstem Europa. "Deutschland wird sich so einbringen, dass wir erfolgreich sein werden", versprach Merkel.
Mehr Personal für EU-Grenzschutzagentur Frontex
Merkel bekräftigte auch die Notwendigkeit eines gemeinsamen europäischen Asylsystems. „Bei der Neuverteilung der Strukturfond-Mittel müssen wir darauf achten, dass die Verteilungskriterien künftig auch das Engagement vieler Regionen und Kommunen bei der Aufnahme und Integration von Migranten widerspiegeln“, sagte sie. Das europäische Asylsystem müsse „krisenfest und endlich auch solidarisch sein, gerade auch was die faire Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU angeht.“ Dies sei bisher „das bei weitem unbefriedigendste Kapitel der europäischen Flüchtlingspolitik“, sagte sie. Länder wie Polen sind Netto-Empfänger bei EU-Leistungen, Deutschland ein Netto-Zahler. "Solidarität kann in der EU keine Einbahnstraße sein", sagte Merkel.
Gleichzeitig forderte die Kanzlerin deutlich mehr Personal für die EU-Grenzschutzagentur Frontex. „Die Europäische Union hat 14.000 Kilometer Außengrenzen, und deshalb muss die Personalausstattung von Frontex massiv verbessert werden“, sagte Merkel. Generell sei der Außengrenzenschutz durch die Reform der Agentur für Grenzschutz und Küstenwache 2016 besser geworden, „aber es bleibt in diesem Bereich noch sehr viel zu tun“, sagte sie. Merkel betonte auch die Notwendigkeit, "konsequent bei Fluchtursachen anzusetzen". Niemand verlasse seine Heimat leichtfertig.
Merkel will Neuausrichtung der EU-Finanzen
Den Einschnitt des bevorstehenden Brexit nannte die Kanzlerin "auch eine Chance, die Finanzen der Europäischen Union auf den Prüfstand zu stellen". Die EU-Regierungen starten am Freitag eine Debatte über den mittelfristigen EU-Finanzrahmen von 2021 bis 2027. Merkel pochte darauf, dass bei der Reform der Euro-Zone auch künftig Haftung und Kontrolle in einer Hand bleiben müssten. Es gehe vor allem darum, die Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der Währungsunion zu verbessern. Ohne einen digitalen Binnenmarkt werde es den EU-Staaten schwer fallen, international wettbewerbsfähig zu bleiben. Merkel will "schnelle Fortschritte im digitalen Wandel" sehen. Die Kanzlerin will die Forschung im Bereich künstlicher Intelligenz und Computerchips fördern. Gleichzeitig sei es wichtig, Bürgern Weiterbildung und lebenslanges Lernen zu ermöglichen, "damit alle von digitalem Fortschritt profitieren können".
Ende der Debatte um Nato-Ausgabenziel
In der Debatte um die in der Nato vereinbarten Ausgaben für Verteidigung wünscht sich Merkel ein Ende. "Wir müssen aufpassen, dass wir international nicht in eine etwas zwiespältige Rolle kommen", sagte sie im Bundestag. Auf der einen Seite werde beklagt, was bei der Bundeswehr alles nicht funktioniere. Auf der anderen Seite stelle Deutschland als "einziger Mitgliedstaat der Nato" infrage, "welchen eigenen Verpflichtungen für den Zielkorridor der Ausgaben wir zugestimmt haben. Das passt nicht zusammen und damit wird man kein verlässlicher Verbündeter."
Zuletzt hatte es mehrfach Kritik an der Ausrüstung und Einsatzfähigkeit der Bundeswehr gegeben. "Unsere Bundeswehr leistet herausragende Arbeit in den internationalen Einsätzen, wir sind in der Nato der zweitgrößte Truppensteller", sagte Merkel im Bundestag. "Wir spielen eine entscheidende Rolle." Gleichzeitig räumte sie ein: "Wir haben Mängel in der Bundeswehr und diese Mängel beruhen auf Entwicklungen von vielen Jahren zuvor." Es sei richtig und wichtig, diese Mängel zu benennen. Es sei aber auch richtig und wichtig, nicht zu vergessen, was von der Bundeswehr geleistet werde.
Merkel für mehr Engagement im Syrien-Konflikt
Merkel plädierte auch für ein stärkeres Engagement der EU im Syrienkonflikt. "Wir müssen alles, was in unserer Kraft steht tun, damit dieses Massaker ein Ende findet", sagte sie im Bundestag. Diese Aufforderung gelte auch den Verbündeten des "Assad-Regimes, ganz besonders Iran und Russland".
Die syrische Region Ost-Ghuta vor den Toren der syrischen Hauptstadt Damaskus steht seit vier Tagen unter Dauerbeschuss durch syrische Regierungstruppen. "Was wir im Augenblick sehen, die schrecklichen Ereignisse in Syrien, der Kampf eines Regimes nicht gegen Terroristen, sondern gegen seine eigene Bevölkerung, die Tötung von Kindern, das Zerstören von Krankenhäusern, all das ist ein Massaker, das es zu verurteilen gilt", sagte Merkel. Die EU müsse diesem Geschehen ein "klares Nein" entgegensetzen.
Nahles fordert mehr soziale Gerechtigkeit in der EU
SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles begrüßte die geplante personelle Verstärkung, widmete ihre Rede dann aber vor allem den Ungleichheiten in der EU. Die Ungleichheit der Lebensverhältnisse sei in der Union weitaus größer als in den USA, sagte die designierte SPD-Chefin am Donnerstag im Bundestag. "Ich glaube, dass es diese Ungleichheiten sind, die den Zusammenhalt in Europa immer wieder neu gefährden." Notwendig sei etwa ein europäischer Rahmen für einen Mindestlohn. Dieser reiche auf nationaler Ebene von 235 Euro im Monat in Bulgarien bis hin zu 2000 Euro in Luxemburg.
Nahles beklagte zudem, dass es nach derzeitiger Rechtslage möglich sei, durch die Verlagerung des Firmensitzes in ein anderes Land die Mitbestimmung auszuhöhlen. "Da muss ein Riegel vorgeschoben werden." Die bestehende Ungleichheit zwischen den einzelnen EU-Mitgliedern gefährde den Zusammenhalt in Europa. Es gebe zwar erfreuliche Signale, etwa beim wirtschaftlichen Aufschwung. Aber "das Grundvertrauen" in die Europäische Union sei noch lange nicht wieder hergestellt." Dies geschehe nicht von alleine, es bleibe noch viel zu tun. (mit Agenturen)