Juncker-Nachfolge: Wer bestimmt den EU-Kommissionspräsidenten?
Das Mini-Mitbestimmungsexperiment von der Europawahl 2014 könnte ein Einzelfall bleiben. Einige der EU-Mächtigen wollen die Bürger bei der Postenvergabe nicht dabei haben. Wie falsch das ist! Ein Gastbeitrag.
Europa steht diesen Freitag vor einer wichtigen demokratiepolitischen Entscheidung: Sollen die Bürger bei der Europawahl in knapp einem Jahr wieder die Ernennung des nächsten EU-Kommissionspräsidenten, dem Nachfolger von Jean-Claude Juncker, mitbestimmen? Es war die wesentliche Innovation der Europawahl 2014, dass die europäischen Parteienfamilien Präsidentschaftskandidaten nominierten und der Bewerber der erfolgreichsten Partei den Chefposten der EU-Kommission übernahm. Auch wenn Juncker nicht auf dem Wahlzettel der europäischen Wähler stand, gab es zum ersten Mal einen erkennbaren Zusammenhang zwischen Wählervotum und Kommissionspräsidentschaft. Dieser Mechanismus ist in den EU-Verträgen nur vage beschrieben, vielmehr wurde er 2014 zur „Verfassungswirklichkeit“.
Dieses Plus an (indirekter) Mitbestimmung für die Bürger könnte eine einmalige Übung gewesen sein. Das Thema steht auf der Tagesordnung des EU-Gipfels am Freitag. Zwar hat Merkel sich für die Wiederholung des „Spitzenkandidaten-Verfahrens“ ausgesprochen, ihr steht aber eine sonderbare Allianz von Kritikern mit den Visegrad-Staaten den Niederlanden, Portugal und dem Vorzeige-Europäer Emmanuel Macron gegenüber. Freilich argumentieren sie höchst unterschiedlich, ihre Motive haben aber den gleichen Kern: Machtpolitik.
Nur die europäischen Parteienfamilien können Spitzenkandidaten nominieren. Wer nicht Teil einer dieser Parteien (wie Macron) oder in seiner Partei isoliert ist (wie Orban), hat keinen Einfluss auf das Kandidatentableau. Für Macron auf lange Sicht noch wichtiger: 2014 gab es die Lesart, dass der Kandidat der stärksten Partei das Präsidentenamt übernehmen soll. In Anbetracht der heutigen Kraftverhältnisse in Europa, könnten die Christdemokraten demnach auf Jahre hinweg das Amt besetzen. Der einzige Hebel von Macron und anderen läge dann allein im Hinterzimmer des Rates.
Um wessen Einfluss es hierbei offensichtlich nicht geht, ist jener der Bürger. Das ist angesichts des nach wie vor empfundenen „Beteiligungsdefizits“ an der EU, der Joker der Populisten, dramatisch. Mit der indirekten Wahl des mächtigen Kommissionschefs wird den Bürgern auch mehr Einfluss auf die Richtung der EU gewährt. Die Kritiker argumentieren, dass die Personalisierung bei der letzten Wahl nicht zu einer höheren Wahlbeteiligung geführt habe. Das ist eine zu kurzsichtige Betrachtung: Insgesamt stagnierte die Beteiligung zwar bei 43 Prozent, aber ohne die Präsidentschaftskampagnen von Juncker und Martin Schulz wäre dieser Wert wohl weiter in den Keller gegangen. So zeigen die Daten der European Elections Studies, einer Nachwahlbefragung, dass sich die Personalisierung positiv auf die Wahlbeteiligung ausgewirkt hat - aber nur dort, wo man auch von den Kandidaten wusste.
Das EU-Wahlsystem zwingt Parteien und Medien in eine missliche Lage
Einerseits lag das am Zögern der Regierungschefs, die Spitzenkandidaten vor der Wahl offiziell zu unterstützen. Andererseits war es das Versäumnis der nationalen Parteien und Medien, die nötige Öffentlichkeit für Juncker, Schulz und Co zu schaffen. Dabei gab es durchaus Möglichkeiten: Eine Woche vor der Europawahl organisierte die Europäische Rundfunkunion eine TV-Debatte mit den insgesamt fünf Präsidentschaftskandidaten. Zur Enttäuschung aller Beteiligten strahlten die nationalen Rundfunkanstalten das Format nur in ihren Spartenkanälen aus, also Phoenix, BBC Parliamentary Channel und so weiter. Im Hauptprogramm lief die Debatte nirgends.
Letztlich zwingt das EU-Wahlsystem Parteien und Medien in eine missliche Lage: Europawahlen sind die Summe von 27 nationalen Wahlen, das EU-Parlament eine Versammlung national gewählter Vertreter. Das derzeitige EU-Wahlrecht sieht nicht vor, dass in allen Ländern die gleichen Kandidaten antreten. Dazu müsste es gesamteuropäische Wahllisten geben, die auch Macron will. Im Europaparlament gab kürzlich dafür keine Mehrheit, kurzfristig wird es sie nicht geben. Fatal wäre nun, würde nicht nur nicht der nächste Schritt zur Europäisierung der Europawahlen mittels transnationaler Listen gemacht werden, sondern stattdessen ein Rückschritt durch die Abschaffung der Spitzenkandidaten. Das würde die Europawahl ein Stück enteuropäisieren und -demokratisieren. Nicht nur das opportune Gejaule der Populisten wäre groß, auch die Bürger dürften sich zurecht fragen, ob die Regierungschefs aus Brexit auf der einen Seite und den Forderungen nach mehr Mitbestimmung nichts gelernt hätten.
Dabei gibt es einen Weg, der auch für Macron gangbar sein sollte: Die EU-Kommission hat betont, dass nicht zwangsläufig die größte Fraktion den Präsidenten stellen muss, sondern eine Koalition, die eine Mehrheit organisieren kann. Bundesrepublikanische Verhältnisse also, denn auch bei uns kommt der Kanzler nicht immer aus der Partei mit den meisten Prozenten am Wahlabend. Diese Form der Koalitionsbildung kennen eine Reihe europäischer Länder, sie würde auch der EU-Ebene einen wirklich demokratischen Wettbewerb ermöglichen: Sollte sich Macron, der wohl eine eigene „En Marche“-Fraktion im EU-Parlament gründen wird, mit Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen auf eine Person mit dessen politisches Programm einigen, wäre das eine Alternative zur numerischen Dominanz der Konservativen. Alternativen braucht Europa. EU-Spitzenkandidaten aus allen politischen Lagern wäre dafür wichtig. Und diese könnten auch problemlos als Ergänzung zu ihrer nationalen Mitgliedspartei auf dem Wahlzettel in jedem EU-Land stehen.
- Der Autor war 2014 Wahlkampfmanager der Europäischen Grünen Partei und arbeitet heute als Politik- und Kommunikationsberater in Brüssel und Berlin.
Johannes Hillje