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Polens neuer Premierminister Mateusz Morawiecki bei seinem Antrittsbesuch in Berlin mit Bundeskanzlerin Angela Merkel.
© John MacDougall/AFP

Vision von Premierminister Morawiecki: Polens Traum von einem Europa der Vaterländer

Warum die nationalistische Politik in Warschau keine bloße Episode bleibt, sondern als Teil einer rechtskonservativen Systematik bleibt. Ein Kommentar.

Als US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld in der Irak-Krise, nach der deutschen Weigerung, sich mit Truppen an der Seite der Vereinigten Staaten zu engagieren, höhnisch von einem desolaten „alten“ und einem dynamischen „neuen“ Europa sprach, dachte er im Negativen an Deutschland und im Positiven an Polen. Das hatte sich bedingungslos an die Seite des transatlantischen Verbündeten gestellt. Inzwischen weiß man, dass die Deutschen damals die nahöstlichen Realitäten klarer sahen als Rumsfeld und George W. Bush.

Aber der Unterschied zwischen einem alten, zerstrittenen Europa und einem neuen, dynamischen Bündnis auf dem Kontinent ist jetzt wieder da, anders als damals, und durchaus missionarisch. Polens Ministerpräsident hat die Vision gerade in Berlin präsentiert, ohne dabei Begriffe wie alt oder neu zu verwenden.

Warschau will ein Europa der zwei Geschwindigkeiten verhindern

Wer Mateusz Morawiecki vergangenen Donnerstag bei seinem Auftritt vor der Körber-Stiftung aufmerksam zuhörte, verstand schnell, dass es ihm nicht nur um Rechtfertigung der Behinderung einer unabhängigen Justiz ging. Nein, der 49-Jährige stellte die Vision eines Polens vor, das die EU mit neuer Kraft erfüllen will, unausgesprochen als geistiger Anführer auch der Visegrad- Staaten. Das gleichermaßen Listige wie Gefährliche dieser Strategie ist, dass die polnische Führung nicht nur auf keinen Fall ein Europa der zwei Geschwindigkeiten will, weil sie die Aufgabe souveräner Rechte an Brüssel verweigert. Nein, es genügt Warschau nicht, sich selbst dem engeren Zusammenschluss zu entziehen – es will ihn, das wurde deutlich, wenn möglich grundsätzlich verhindern.

„Der Nationalstaat ist ein Fels der Demokratie“, sagte Morawiecki, und nur durch die Stärkung des Nationalstaats könnten die Ungleichheiten überwunden werden, die heute die Gesellschaften erodieren lassen. Denn, so Morawiecki, die Zweifel am Fortgelten eines Gesellschaftsvertrags, der der nachfolgenden Generation immer mehr Wohlstand versprach als der Generation der Eltern, hätten ja eine Quelle. Es seien die Unsicherheiten, Ungleichgewichtigkeiten, Ungerechtigkeiten, an denen nicht zuletzt Globalisierung und die nicht geschützten Außengrenzen der EU schuld seien.

Das angelsächsische Gesellschaftsmodell habe sich als untauglich erwiesen, sagt Morawiecki. Es befördere die Anhäufung von Reichtum bei immer weniger Menschen. Auch das etatistische französische Gesellschaftsmodell sei gescheitert. Die Menschen verspürten das sehr genau, so seine Analyse. Aber seine Partei in Polen, die PiS, habe das Aufbegehren der Menschen verstanden und für gleichmäßigere Verteilung des Wohlstands gesorgt. Dass in Frankreich politische Extremisten wie Marine LePen und Jean-Luc Mélenchon 40 Prozent der Stimmen bei den Präsidentschaftswahlen bekamen, sei doch ein Zeichen für die Unzufriedenheit der Bürger mit den etablierten Parteien.

Was resultiert daraus? Morawiecki meint, die Regierenden hätten Angst vor der Stimme des Volkes, statt auf sie zu hören. Der Brexit sei ein Beispiel dafür. Da freilich irrt der polnische Regierungschef. Die Mehrheit für den Brexit war auch, wenn nicht vor allem, ein Protest der britischen Unter- und Mittelschicht gegen die vielen zehntausend polnischen Arbeitnehmer, die nach dem EU-Beitritt Polens von der neuen Freizügigkeit profitierten. Genau diese Freizügigkeit hatte ihnen übrigens die damalige deutsche Regierung Schröder 2004 nicht zugestanden, wohl ahnend, was dies für einen ohnedies überforderten deutschen Arbeitsmarkt bedeuten würde…

Die polnische Regierung betreibt peinliche Geschichtsklitterung

Hinter vielem, was Mateusz Morawiecki in Berlin sagte, steckt auch das polnische Trauma eines Landes, das immer wieder zum Spielball der großen Mächte geworden war, und das deshalb nun umso entschlossener die vor gerade einmal 100 Jahren wieder gewonnene Staatlichkeit, die Nation, verteidigen wird. Polen versteht sich als Opfer – wer könnte, müsste das mehr nachvollziehen als die deutsche Politik?

Dass die aktuelle Warschauer Regierung diese Opferrolle bis zur Geschichtsklitterung in der Frage möglicher polnischer Mitläufer der Nazis ausbaut, wirkt aber eher peinlich. Und dass, so Morawiecki, Polen nach dem EU-Beitritt auch noch Opfer des Ausverkaufs an westliche Unternehmen geworden sei, an Dividenden mehr ins Ausland überweise, als es aus Brüssel an Hilfen bekomme, ist eine sehr eigenwillige Sicht.

Wie auch immer: Man ahnt jetzt, dass die aktuelle polnische Politik nicht Episode ist, sondern Teil einer Systematik – und damit wohl eine Konstante.

Gerd Appenzeller

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