Milliardenforderungen aus Polen: Muss Deutschland noch für Kriegsverbrechen zahlen?
Zum 80. Jahrestag des deutschen Überfalls bekräftigt Polen Forderungen für erlittenes Leid. Die Bundesregierung hält die Frage für juristisch geklärt.
Kurz vor dem 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen am 1. September 1939 hat die polnische Regierung die Forderung an Deutschland nach Reparationen bekräftigt. In Warschau wird über eine Studie gesprochen, die die nicht ausgeglichenen Schäden mit über 800 Milliarden Euro beziffert. Aus Sicht der Bundesregierung gibt es keine rechtliche Grundlage für Reparationen. Die Frage sei durch diverse Verträge abschließend geklärt.
Im Bundestag findet jedoch der Vorschlag parteiübergreifend Unterstützung, Polen mit einer Geste entgegenzukommen. Zum Beispiel könne man das im Krieg zerstörte Sächsische Palais in Warschau aus deutschen Mitteln wieder aufbauen oder Geld in einen Zukunftsfonds geben – für Projekte, die Polen und Deutsche zusammenbringen und die Erinnerung wachhalten.
Was fordert Polen?
Ministerpräsident Mateusz Morawiecki beklagte am Mittwoch: „Polen hat von Deutschland bis heute keine angemessene Kompensation für die Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs bekommen.“ Sein Land habe sechs Millionen Menschen verloren, mehr als tausend Dörfer seien ausgelöscht worden. Polen habe weit mehr gelitten als andere Staaten, die jedoch umfangreiche Reparationen erhalten hätten. „Das ist nicht fair.“ Morawiecki nannte keine konkrete Summe, die Polen von Deutschland erhalten wolle.
Mit der gleichen Begründung hatte Außenminister Jacek Czaputowicz am Montag Reparationen verlangt. Bei der Entschädigung der von Deutschland angegriffenen Länder habe es einen „Mangel an grundsätzlicher Fairness“ gegeben. „Polen wurde in diesem Prozess diskriminiert.“ Es gebe „Länder, die ein Vielfaches weniger verloren haben, aber mehr Kompensation bekommen haben. Ist das in Ordnung?“ Czaputowicz verwies auf Frankreich und die Niederlande. Auch er nannte keine konkrete Summe.
Wie reagiert die Bundesregierung?
Juristisch ist die Frage der Reparationen aus deutscher Sicht abgeschlossen. Sie wurde in mehreren Verträgen geregelt. Im Potsdamer Abkommen vereinbarten die Siegermächte, dass die Reparationen an Polen aus den Leistungen zu entnehmen seien, die die Sowjetunion erhält. Im Görlitzer Vertrag 1950 einigten sich die Regierungen der DDR und Polens auf die Oder-Neiße-Linie als endgültige Grenze. 1953 erklärte die polnische Regierung gegenüber der DDR, dass sie auf weitere Reparationen verzichte. Im Zwei-plus-vier-Vertrag zur Einheit Deutschlands 1990 heißt es, Reparationsfragen seien erledigt. Bei den Gesprächen über den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag von 1991 erklärten beide Regierungen die Entschädigungsfragen für abschließend geregelt.
Polen hat zudem einen materiellen Ausgleich durch die Westverschiebung seiner Grenzen erhalten. Die Gebiete in Ostpreußen, Westpreußen, Pommern, Nieder- und Oberschlesien, die zu Polen kamen, waren ökonomisch besser entwickelt als die Ostgebiete, die Polen an die Sowjetunion verlor.
Die Frage, ob Polen von Deutschland so viele Jahre nach dem Krieg Reparationen fordern kann, hat neben der juristischen auch eine moralische und eine politische Komponente. Moralisch steht Deutschland in Polens Schuld; es hat keine materielle Wiedergutmachung geleistet, die annähernd im Verhältnis zu den Leiden und Schäden steht. Sechs Millionen polnische Bürger wurden ermordet, ein Großteil davon jüdischen Glaubens. Die polnische Intelligenz wurde gezielt ausgerottet. Städte und Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht.
Warum bricht die Debatte jetzt auf?
Polens rechtspopulistische Regierungspartei PiS hat die Frage deutscher Reparationen nach dem Wahlsieg 2015 immer wieder vorangetrieben. Eine Parlamentskommission hat einen Bericht mit Berechnungen zur Höhe der Forderungen und Argumenten erarbeitet. Er ist noch nicht veröffentlicht. Ein Wortführer ist der Reparationsbeauftragte und PiS-Abgeordnete Arkadiusz Mularczyk. Er behauptet, die Reparationsfragen seien nicht abschließend geregelt, weil Polen am Potsdamer Abkommen nicht beteiligt war und zur Zeit des Görlitzer Vertrags mit der DDR keine demokratisch legitimierte Regierung hatte. Kurz vor dem 80. Jahrestag des Kriegsbeginns findet er mehr Gehör. Zudem wählt Polen am 13. Oktober.
Wie gedenken Deutsche und Polen am 80. Jahrestag des Kriegsbeginns?
Bundespräsident Frank Walter Steinmeier reist am 1. September nach Warschau. Eine Delegation des Deutschen Bundestags besucht die Westerplatte. Auf der Landzunge in der Hafeneinfahrt zur damaligen Freien Stadt Danzig befand sich ein polnisches Munitionsdepot. Das deutsche Kriegsschiff „Schleswig-Holstein“ hatte am 1. September 1939 um 4 Uhr 47 die Westerplatte beschossen: die ersten Schüsse des Zweiten Weltkriegs.
In Berlin wird Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble mit Vertretern der Zivilgesellschaft und verschiedener Organisationen um 13 Uhr am Askanischen Platz vor der Ruine des Anhalter Bahnhofs an den von Deutschland verschuldeten Krieg erinnern. Polens Sejmmarschallin Elzbieta Witek ist eingeladen und hat ihre Teilnahme inzwischen bestätigt. Die Initiative ging vom Direktor des Deutschen Polen-Instituts Dieter Bingen aus. Der deutsch-polnische Chor „Spotkanie“ wird singen. Die Veranstalter bitten, keine Kränze mitzubringen, dafür aber Blumen in den polnischen Nationalfarben Weiß und Rot.
Bereits um 10 Uhr laden verschiedene Religionsgemeinschaften zu einem Gedenkgottesdienst in den Berliner Dom. Dabei soll auch eine Partnerschaft mit der St.-Trinitatis-Gemeinde aus Warschau begründet werden.
Der Askanische Platz wurde als Ort des Gedenkens gewählt, weil dort ein Gedenkort für die polnischen Opfer des Zweiten Weltkriegs entstehen soll. Dafür setzen sich mehrere gesellschaftliche Initiativen ein und eine parteiübergreifende Koalition aus Abgeordneten der deutsch-polnischen Parlamentariergruppe, darunter Alexander Müller (FDP), Dietmar Nietan (SPD), Thomas Nord (Die Linke), Manuel Sarrazin (Bündnis 90/Die Grünen) und Paul Ziemiak (CDU). Obwohl die Debatten seit Monaten andauern, konnten sich Bundesregierung und Bundestag nicht auf eine Geste einigen, mit der sie Polen am Jahrestag gegenübertreten.
Wie lässt sich der Streit lösen?
Die Abgeordneten bekräftigen, dass die Entschädigungsfrage juristisch geklärt sei. Sie bedauern, dass die PiS das Thema treibe. Das sei „kontraproduktiv“ (Nord) und ein „falscher Ansatz unter Nato- und EU-Partnern“ (Nietan). Deutschland solle jedoch unabhängig davon ein Zeichen setzen, dass es seine historische Verantwortung anerkenne und in die gemeinsame Zukunft investiere. Ein solches Zeichen könne der Wiederaufbau eines symbolträchtigen Gebäudes wie des Sächsischen Palais in Warschau sein, sagen Nietan und Müller. Sarrazin setzt hinzu, das hänge davon ab, ob Polen diese Idee unterstütze. Nietan und Nord fänden es noch besser, Menschen zu fördern. Zum Beispiel mit Stipendienprogrammen für polnische Jugendliche in Erinnerung daran, dass das Dritte Reich Polens Intelligenz ausrotten wollte. Oder in den Jugendaustausch und die Infrastruktur in der Grenzregion zu investieren, damit mehr Menschen sich begegnen.
Bei der finanziellen Größenordnung einer Geste gehen die Vorstellungen auseinander. Nietan und Nord sagen, es sollte „mehr als nur eine symbolische Geste“ sein. Der Grundgedanke stimme, dass Polen im Vergleich mit Westeuropa und gemessen an der Zerstörung bei den Reparationen schlecht weggekommen sei. Ostdeutschland habe zudem beträchtliche Reparationen an die Sowjetunion geleistet, nur habe Polen davon wenig abbekommen. Müller warnt vor Aufrechnungen. Dann könnten Vertriebene umgekehrt Entschädigungen für die hinterlassenen Häuser und Betriebe verlangen. „Irgendwann muss auch mal gut sein.“