81 Jahre nach Hitlers Überfall auf Polen: Berlin ehrt seine polnischen Befreier
In Charlottenburg wird ein Denkmal für polnische Einheiten eingeweiht. Sie hatten das Zentrum 1945 mit der Roten Armee vom westlichen Stadtrand aus erobert.
Mit der Erinnerung ist es manchmal wie mit den Mühlen Gottes. Die mahlen langsam, sagt der Volksmund. Aber mit der Zeit geht es voran. 81 Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs füllen sich nun mit Hilfe neuer Gedenkorte in der Stadt Lücken im Wissen der Berliner über ihre Befreier 1945 und über die Opfer in den Jahren zuvor.
Am 1. September um 11 Uhr weihen das Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf und die TU ein „Denkmal für die polnischen Befreier*innen“ ein - in Anwesenheit von Veteranen, des Bezirksbürgermeisters Reinhard Naumann und des polnischen Botschafters Andrzej Przylebski. Um die 180.000 Polinnen und Polen kämpften in polnischen Einheiten der Roten Armee bei der Eroberung Berlins. Sie trugen nationale Namen wie „Tadeusz-Kościuszko-Division der 1. Polnischen Armee“, drangen von Westen zur Siegessäule vor und hissten dort am 2. Mai die polnische Flagge.
Die Gedenktafel in Deutsch, Polnisch, Englisch und Russisch geht auf eine Initiative des aus Polen stammenden Berliners Kamil Majchrzak zurück. Sie hat die Form einer drei Meter hohen, in den Boden gerammten militärischen Standarte und steht – noch verhüllt – vor dem TU-Erweiterungsbau an der Straße des 17. Juni, Hausnummer 145, Ecke Ernst-Reuter-Platz. Auf ihr sind die Stationen des verlustreichen Vordringens polnischer Einheiten vom Karl-August-Platz über die Trinitatiskirche, das Charlottenburger Tor und die Siegessäule bis zum Brandenburger Tor eingraviert.
Werben für Mahnmal für die polnischen Kriegsopfer
Ebenfalls am 1. September, dem Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen 1939, werben die Initiatoren des Mahnmals für die sechs Millionen polnischen Opfer des Zweiten Weltkriegs am Askanischen Platz für ihr Projekt. Bei der Veranstaltung um 18 Uhr sprechen Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke, die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, Botschafter Przylebski, der neue Direktor des Deutschen Polen-Instituts, Peter Oliver Loew, und Uwe Neumärker, Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Wegen Corona ist die Teilnehmerzahl begrenzt; Interessierte können aber online teilnehmen.
Der Bundestag berät seit Monaten über unterschiedliche Versionen eines Mahnmals im Zentrum von Berlin. Auch dieses Projekt begann mit einer zivilgesellschaftlichen Initiative. Florian Mausbach, Ex-Präsident des Bundesamtes für Bauwesen, und Dieter Bingen, Osteuropahistoriker und langjähriger Leiter des Deutschen Polen-Instituts, waren treibende Kräfte.
Initiativen der Zivilgesellschaft mit Rückhalt in der Politik
Acht Jahrzehnte nach dem Kriegsbeginn rücken die Polen als erste Kriegsopfer und als Befreier Berlins mit Gedenkorten in den Blick einer breiteren Öffentlichkeit: erstaunlich spät, könnte man sagen. Andererseits treffen die Initiativen engagierter Bürger nun offenbar auf ein Bedürfnis in der Gesellschaft. Mausbach und Bingen fanden einflussreiche Fürsprecher in Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) und Abgeordneten aller Parteien.
Majchrzak, der im Bundesatgsbüro der Linken-Abgeordneten Brigitte Freihold arbeitet, konnte den Bezirksbürgermeister von Charlottenburg-Wilmersdorf, Reinhard Naumann (SPD), und den Stadtentwicklungsexperten Wolfgang Tillinger (SPD) von der Idee eines „Denkmals für die polnischen Befreier*innen“ überzeugen. Das half beim Marathonlauf durch Ämter und Behörden.
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Sichtbar muss ein Denkmal sein und „von unten“ getragen werden, betont Majchrzak. Sonst wird es nicht beachtet. Wer in Berlin kennt schon die Gräber der polnischen Soldaten, die in der britischen Armee kämpften und auf dem Soldatenfriedhof an der Heerstraße liegen? Auf die Idee mit dem Denkmal kam Majchrzak 2012, als polnische Veteranen die Orte ihrer Kämpfe in Berlin besuchten.
Ein Motiv für den Standort: Wehrtechnische Institute der TU
Die TU erwies sich schließlich als geeigneter Ort für die Gedenktafel, weil Studenten sich für die Verwicklung der wehrtechnischen Institute der TU in Hitlers Vernichtungskrieg interessierten. Und weil diese Institute wichtige Ziele bei der Eroberung Berlins waren.
Wehrmacht und Volkssturm verteidigten Berlin erbittert. Vor allem die Panzerfaust erwies sich als tödliche Waffe gegen die vorrückende Rote Armee. Am ersten Tag der Schlacht verlor sie 400 Panzer, sagt Majchrzak. Entscheidend für den Vorstoß von Westen über Charlottenburg sei dann die Unterstützung durch polnische Pioniere und Infanterie gewesen, die im Häuserkampf die Verteidiger vertrieben und die Panzersperren auf dem Weg ins Zentrum beseitigten.
Der Kampf als Weg aus sibirischen Lagern nach Hause
Majchrzaks einer Großvater hat in der 2. Polnischen Armee in der Lausitz gekämpft, der andere saß im KZ. Er möchte mit seiner Initiative den Blick für die Vielfalt polnischer Schicksale zwischen 1939 und 1945 öffnen. Polinnen und Polen, die später in der Roten Armee kämpften, waren keine Kommunisten. 1920 hatten Polen und die Sowjetunion noch Krieg gegeneinander geführt. Die späteren polnischen Befreier Berlins waren zumeist 1939, als Hitler und Stalin Polen unter sich aufteilten, vom sowjetischen Geheimdienst NKWD nach Sibirien und an andere unwirtliche Orte deportiert worden. Der NKWD ermordete einen Großteil des polnischen Offizierskorps 1940 im Wald von Katyn.
1941, als Hitler die Sowjetunion angriff, wurde die Bereitschaft zu kämpfen, für die überlebenden Lagerinsassen zur Chance, freizukommen. „Die wollten einfach nach Hause“, sagt Majchrzak. Doch die Pflicht endete nicht mit der Befreiung ihrer polnischen Heimat von den Nazis auf dem Weg der Polnischen Armeen nach Westen. Die 1. Polnische Armee unter General Zygmunt Berling musste weiterkämpfen bis Berlin.
Polens Fronten: Luftschlacht um England, Monte Cassino, Berlin
Polen kämpften nach dem Untergang ihres Vaterlandes 1939 an zahlreichen Fronten, angefangen mit der „Armia Krajowa“ (Heimatarmee) im Untergrund im besetzten Polen bis zum Warschauer Aufstand 1944. Wieder andere zogen mit der Anders-Armee von der Sowjetunion über den Iran in den Nahen Osten und kämpften dann an der Seite der Westalliierten, etwa in Italien bei der Erstürmung von Monte Casino oder als Piloten in der Luftschlacht um England. Nach der deutschen Kapitulation hatte Polen vorübergehend eine eigene Besatzungszone im Emsland.
Die Gedenkinitiativen rufen solche Facetten des in Deutschland wenig bekannten Widerstands gegen Hitler in Erinnerung.