Schlacht um Aleppo in Syrien: Kampf ums Überleben
Die Lage im syrischen Aleppo und an der Grenze zur Türkei ist katastrophal – doch die Regierung in Ankara hofft weiter auf EU-Hilfen.
Der Kampf um Aleppo hat katastrophale Folgen für die Zivilbevölkerung. Fast 80 000 Menschen, die von den neuen Kämpfen um die nordsyrische Stadt vertrieben wurden, warten an der Grenze zur Türkei, wo sie von türkischen und internationalen Hilfsorganisationen mit Zelten, Decken und Nahrungsmitteln versorgt werden. In Aleppo selbst kämpfen die Menschen ums Überleben. Nach Informationen von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen wurden allein in der vergangenen Woche drei Krankenhäuser in der Stadt von Bomben getroffen.
Rund 250.000 bis 300.000 Menschen, die in Stadtteilen lebten, die nicht unter Kontrolle der Regierung stehen, seien derzeit von der Versorgung abgeschnitten. Ärzte ohne Grenzen mussten ihre letzte eigene Klinik im Sommer 2015 aus Sicherheitsgründen aufgeben. Man unterstütze aber weiter Krankenhäuser, die von einheimischen Helfern betrieben werden.
Auch an der türkischen Grenze sei die Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen nicht sichergestellt, berichtete die Ärzteorganisation am Dienstag. Viele Menschen harrten bei niedrigen Temperaturen außerhalb der errichteten Camps aus, wo sie kaum Hilfe bekämen. Die islamische Stiftung IHH meldete, in den Flüchtlingslagern würden täglich Mahlzeiten für 50.000 Menschen und rund 100 000 Brotlaibe verteilt. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) versorgt die Menschen in der nordsyrischen Stadt Asas mit Lebensmitteln. Dorthin sind tausende Menschen vor den Kämpfen um Aleppo geflohen. „Die Situation ist sehr instabil, Familien flüchten auf der Suche nach Sicherheit“, erklärt Jakob Kern, beim Welternährungsprogramm zuständig für Syrien. Große Sorge bereitet den UN-Helfern auch, dass vor allem der Osten der Stadt inzwischen wegen abgesperrter Straßen nicht mehr versorgt werden kann.
Medienberichten zufolge sind die syrischen Regierungstruppen inzwischen bis auf 20 Kilometer an die türkische Grenze herangerückt. Ihr Ziel ist nach Einschätzung Ankaras, die Großstadt Aleppo mithilfe russischer Luftangriffe zu erobern und zuvor alle Verbindungen der Rebellen zur Türkei zu unterbrechen.
Laut Außenminister Mevlüt Cavudoglu rechnet die Regierung in Ankara damit, dass bis zu eine Million Menschen Richtung Türkei marschieren könnten, wenn sich die Lage um Aleppo weiter verschlechtert. Bisher weigert sich die Türkei, ihre Grenze für die Flüchtlinge zu öffnen. Nur Verletzte werden versorgt.
"Kontrolliert" ins Land
Ankara fordert seit Jahren militärisch gesicherte Schutzzonen für Flüchtlinge in Syrien selbst. Auf diese Weise könne eine fortgesetzte Massenflucht in die Türkei und dann nach Europa unterbunden werden, argumentieren die Verantwortlichen. Die syrische Exilopposition unterstützt den Plan, doch im Westen kann sich bisher niemand dafür erwärmen; ein entsprechendes UN-Mandat gilt derzeit als ausgeschlossen.
Nun wolle die Türkei mit den Camps in Syrien zunächst eine „ungeschützte Schutzzone“ bilden, schrieb Marc Pierini, ein früherer EU-Botschafter in Ankara, auf Twitter. Den türkischen Behörden geht es offenbar aber auch darum, den Zustrom von Flüchtlingen besser zu steuern. In Kilis an der syrischen Grenze leben schon jetzt mehr Syrer als Türken. Außenminister Cavusoglu sagte, die Menschen an der Grenze sollten „kontrolliert“ ins Land gelassen werden. Nach seinen Angaben durften bisher rund 10.000 Wartende in die Türkei einreisen.
Zudem will die türkische Regierung die internationale Aufmerksamkeit wohl auch nutzen, um den Druck auf die EU zu erhöhen, mehr Geld für die Flüchtlingshilfe bereitzustellen. Wenn der Plan einer Schutzzone am Ende Zustimmung finden würde, wäre das Ankara nur recht.
Nach Einschätzung von Peter Neumann wird die Schlacht um Aleppo erhebliche Konsequenzen für ganz Syrien haben. „Man muss damit rechnen, dass die noch verbliebenen Einwohner alles daran setzen werden, die Stadt zu verlassen“, sagt der Terrorismus- und Sicherheitsexperte am Londoner King’s College. Das gelte vor allem für die noch von den Rebellen gehaltenen Viertel. Damit setze sich ein Muster des seit fünf Jahren andauernden Krieges fort: „Die Bevölkerung sortiert sich im Land nach Loyalitäten.“
Der Nutznießer heißt "Islamischer Staat"
Auch deshalb müsse das vorrangige politische Ziel lauten, den Konflikt möglichst rasch einzufrieren und das Land in autonome Zonen aufzuteilen. Doch davon sei man derzeit weit entfernt. „Vielmehr ist zu befürchten, dass sich durch Aleppo der Stellvertreterkrieg in Syrien ausweiten wird. Gerade Saudi-Arabien und die Türkei werden als erklärte Gegner des Regimes den Vormarsch der Regierungstruppen nicht tatenlos hinnehmen.“
Einer der Nutznießer der dramatischen Situation ist der „Islamische Staat“ (IS). Die Terrormiliz profitiert laut Neumann zum einen davon, dass weder Russland noch Assads Truppen entschieden gegen die Dschihadisten vorgehen. „Der Machthaber in Damaskus spekuliert darauf, dass am Ende allein er und der IS übrig bleiben. Für den Westen hieße es dann, er müsste Assad als kleineres Übel akzeptieren.“ Zum anderen hätten die Luftschläge gegen die Rebellen dazu geführt, dass der „Islamische Staat“ seinen Einflussbereich auf Kosten der Opposition ausweiten konnte.
Und noch etwas beunruhigt Neumann. „Es gibt Gerüchte, wonach der IS für die Opposition militärisch Partei ergreifen könnte – nicht zuletzt, um sich durch den Kampf gegen Assad Legitimität in der syrischen Bevölkerung zu verschaffen. Und das bedeutet womöglich, die ,Gotteskrieger‘ finden noch mehr Anhänger.“