Krieg in Syrien: Türkei und EU streiten über neue Fluchtwelle
Die Türkei lässt die Flüchtlinge aus Syrien nicht über die Grenze und benutzt sie als Pfand in Verhandlungen mit der EU und Angela Merkel.
Für mehrere zehntausend Syrer, die vor den neuen Kämpfen um die Großstadt Aleppo in Richtung Türkei fliehen, bleibt die Grenze vorerst geschlossen. Die türkischen Behörden erklärten, die rund 35.000 Flüchtlinge sollten vorerst auf syrischem Boden versorgt werden. Die humanitäre Lage an der Grenze verschlechterte sich am Sonntag, die EU und Menschenrechtsorganisationen riefen Ankara auf, die Menschen ins Land zu lassen, doch offenbar will die türkische Führung zunächst weiter abwarten. Präsident Recep Tayyip Erdogan kritisierte kurz vor dem Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Ankara an diesem Montag die Haltung des Westens - und bekräftigte seine Forderung nach Einrichtung einer Schutzzone in Syrien.
Ein türkischer Behördenvertreter sagte der Nachrichtenagentur AFP allerdings, die Grenze werde zeitweise für Notfälle geöffnet. Am Freitag seien sieben Verletzte durchgelassen worden und am Samstag ein weiterer Verwundeter, damit sie in der Türkei behandelt werden könnten. Die Menschen auf der syrischen Seite des türkischen Grenzübergangs Öncüpinar fliehen vor einer syrischen Regierungsoffensive nördlich von Aleppo, das etwa 60 Kilometer von der türkischen Grenze entfernt liegt. Türkische Medien spekulierten, Syriens Partner Russland wolle in dem seit Jahren zwischen Regierung und Rebellen umkämpften Aleppo vollendete Tatsachen schaffen, bevor Moskau bei einem Treffen am kommenden Donnerstag neue Vorschläge für Syrien präsentieren werde.
Sollte Aleppo an die Regierungstruppen fallen, werden sich möglicherweise mehrere hunderttausend Syrer auf den Weg in die Türkei machen. Die türkische Katastrophenschutzbehörde Afad und türkische Hilfsorganisationen schickten in den vergangenen Tagen Zelte, Suppenküchen und andere Hilfsgüter zur Versorgung der Flüchtlinge an den syrischen Übergang Bab al-Salam – Tor des Friedens.
Bei Temperaturen unter Null auf nacktem Boden schlafen
Die Situation an der türkisch-syrischen Grenze wird offenbar immer dramatischer. Es mangelt an allem. So müssen die Flüchtlinge nach Angaben von Helfern in der Kälte ausharren – oft nur mit der Kleidung, die sie am Leib tragen. Die Hilfsgüter reichen nicht aus, um die vielen Menschen zu versorgen.
Laut Ärzte ohne Grenzen fehlt es in den Aufnahmelagern rund um die nördlich von Aleppo gelegene Stadt Azaz nicht nur an Platz – viele Schutzsuchende müssen deshalb bei Temperaturen unter Null auf dem kalten Boden schlafen –, sondern auch an sanitären Einrichtungen, Trinkwasser und Lebensmitteln. Nach Schätzungen der Organisation sind bisher fast 80.000 Frauen, Kinder und Männer aus der Region Aleppo Richtung Türkei geflohen.
Zehntausende versuchen derzeit, den Kämpfen um die zweitgrößte syrische Stadt zu entkommen. Vor einigen Tagen haben Soldaten der syrischen Armee den Vormarsch begonnen. Unterstützt wird das Regime von Machthaber Baschar al Assad dem Vernehmen nach vor allem durch Mitglieder der Hisbollah und iranische Milizen. Entscheidend für den Erfolg der Regierungstruppen ist allerdings Moskaus militärische Hilfe. Russische Kampfjets bomben Assads Einheiten am Boden den Weg frei.
Mit russischer Hilfe
Begründet wird das Vorgehen mit dem Kampf gegen „Terroristen“. Nach Lesart der Herrscher in Damaskus und des Kremls gehören dazu auch die Aufständischen, die nach wie vor den Osten Aleppos kontrollieren. Dort sollen sich noch bis zu 350.000 Zivilisten aufhalten. Ihre Lage könnte sich in den kommenden Tagen verschärfen. Denn inzwischen sind fast alle Versorgungswege in die Stadt durch Einheiten des Regimes abgesperrt. Beobachter fürchten, dass die einstige Millionen-Stadt ausgehungert werden soll. Auch das könnte eine neue Massenflucht auslösen.
Erdogan sagte türkischen Reportern auf dem Rückweg von einer Auslandsreise, im Notfall würden die Menschen in die Türkei gelassen. Dennoch blieb das Grenztor zunächst geschlossen. Ein Grund für das Zögern Ankaras könnte die Sorge der türkischen Behörden sein, dass eine Öffnung einen sofortigen Massenansturm von Syrern auslösen würde. Laut Medienberichten sagte ein regierungskritischer Aktivist in Aleppo, dass viele Menschen nur deshalb noch zu Hause blieben, weil die Türkei die Grenze geschlossen halte. Sobald es eine Garantie gebe, dass die Syrer in die Türkei gelassen würden, werde eine Fluchtwelle losbrechen. In Kilis, der türkischen Provinz an der Grenze, leben bereits jetzt mehr Syrer als Türken. Insgesamt hat das Land 2,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen.
Die Türkei will eine Schutzzone in Syrien einrichten
Auch politische Überlegungen könnten beim Nein der Türkei zu einer sofortigen Grenzöffnung eine Rolle spielen. Erdogan nutzte die neue internationale Aufmerksamkeit für die Lage an der Grenze, um den türkischen Plan zur Einrichtung einer Schutzzone wieder auf die Tagesordnung zu bringen. Er verwies auf die milliardenschweren Hilfszusagen bei der kürzlichen Geberkonferenz in London und sagte, die türkische Bauindustrie sei in der Lage, in kurzer Zeit Unterkünfte für syrische Flüchtlinge auf syrischem Boden zu errichten.
Unterstützung erhielt Erdogan von den amerikanischen Ex-Diplomaten Nicholas Burns und James Jeffrey, die in der „Washington Post“ für eine von den USA und der Nato aus der Luft patrouillierte Schutzzone plädierten. Bisher sind die westlichen Partner der Türkei aber nicht gewillt, darauf einzugehen.
Russland hatte der Türkei in den vergangenen Tagen vorgeworfen, eine Militärintervention im Norden Syriens vorzubereiten. Erdogan dementierte dies nicht ausdrücklich und verwies auf die vielen – auch verwandtschaftlichen – Beziehungen zwischen Türken und Syrern. Er betonte, die türkischen Sicherheitskräfte an der Grenze seien auf alle Eventualitäten vorbereitet. Wenn schnelle Reaktionen nötig seien, würden diese umgesetzt, ohne dass vorher viel darüber geredet werde.
Gleichzeitig kritisierte Erdogan die Haltung des Westens. Den USA warf er vor, nach wie vor die syrische Kurdenpartei PYD zu unterstützen, die von der Türkei als Terrorgruppe betrachtet wird. Erdogan sagte, die PYD verfüge über westliche Waffen. Die USA sollten sich entscheiden, ob sie die Türkei oder die PYD als Partner behandeln wollten. Aus Sicht Washington sind die Kurden wichtige Verbündete im Kampf gegen den "Islamischen Staat" (IS).
Erdogan äußerte sich auch verärgert über die EU, die zwar drei Milliarden Euro an Hilfe für die Versorgung syrischer Flüchtlinge zugesagt, aber bisher nichts zur Umsetzung dieses Versprechens getan habe. Er werde darüber an diesem Montag mit Merkel reden, sagte Erdogan. Die EU erwartet von der Türkei verstärkte Maßnahmen zur Reduzierung des Flüchtlingsstroms nach Europa. Bisher ist die Zahl der in Griechenland ankommenden Flüchtlinge aus Sicht der EU aber nicht genügend gesunken.
Der kurzfristig anberaumte Besuch der Kanzlerin folgt kurz auf die deutsch-türkischen Konsultationen in Berlin am 22. Januar, die ebenfalls ganz im Zeichen der Flüchtlingskrise standen. In der Zeitung „Hürriyet“ hieß es in Anspielung auf die Widerstände gegen die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin in Deutschland, Merkels erneuter Termin mit der türkischen Führung trage Zeichen von „Panik“.