Wut des Volkes nach dem Flugzeugabschuss: Irans Regime gerät in Bedrängnis – und bleibt dennoch hart
Der Unmut der Iraner wächst, angefacht noch durch die Lügen zum Flugzeugabschuss. Nun hat sich Revolutionsführer Chamenei erklärt. Wohin steuert das Land?
Lüge – das ist ein Wort, das Irans Regierende meistens nur für ihre Gegner benutzen. Doch nun hat ein hoher Vertreter des Regimes zum ersten Mal offen und öffentlich zugegeben, dass die Führung gelogen hat. Im Iran seien Demonstranten auf der Straße, „weil sie angelogen wurden“, sagte Außenminister Dschawad Sarif.
Drei Tage lang hatten die Behörden in Teheran vorige Woche von einem technischen Defekt als Ursache für den Absturz des ukrainischen Verkehrsflugzeugs gesprochen.
Als sie dann aber zugeben mussten, dass die Revolutionsgarde die Maschine abgeschossen hatte, brach sich der öffentliche Unmut bei vielen Protestkundgebungen Bahn.
Das zeigt: Die Lage ist ernst für die Mullahs. Revolutionsführer Ajatollah Ali Chamenei wollte deshalb an diesem Freitag einen Befreiungsschlag versuchen. Zum ersten Mal seit acht Jahren hielt der greise Geistliche die Predigt beim Freitagsgebet in Teheran - doch er blieb seinem Ruf als Hardliner treu.
In seiner Predigt würdigte Chamenei den von den USA getöteten General Qassem Soleimani und rügte die Proteste gegen den Abschuss der ukrainischen Verkehrsmaschine als Angriff auf die Revolutionsgarde.
Keine Entschuldigung für den Tod der Flugpassagiere
Die Rede des 80-Jährigen enthielt weder eine Entschuldigung für den Tod von 176 Menschen an Bord des Flugzeugs noch Verständnis für die Wut der Demonstranten über die tagelangen Lügen der Behörden über die Ursache des Absturzes.
Auch die Europäer bekamen wegen ihres Verhaltens im Atomstreit ihr Fett ab. Mit der Rede verstärkte Chamenei die Isolation des Regimes im Iran selbst und in der internationalen Gemeinschaft.
Der Unmut
Die Führung der Islamischen Republik, die erst vor zwei Monaten von Protesten gegen eine Benzinpreiserhöhung erschüttert wurde, ist durch den Abschuss der Verkehrsmaschine wieder in der Defensive: Ausgerechnet die Revolutionsgarde – die Elitetruppe des schiitischen Gottesstaats – hat 176 unschuldige Menschen getötet.
Die meisten Opfer waren Iraner und iranischstämmige Bürger anderer Staaten. Demonstranten in Teheran und anderen Städten fordern daher den Rücktritt des 80-jährigen Chamenei, der der mächtigste Mann im Staat und Oberbefehlshaber der Revolutionsgarde ist.
Die Sicherheitsbehörden setzten gegen die Demonstranten nicht nur Tränengas, sondern auch Schusswaffen ein, wie Videos in den sozialen Medien zeigten. Auf Dauer werden Chamenei und seine Verbündeten die Krise der Islamischen Republik damit aber wohl kaum in den Griff bekommen – die Probleme sind zu vielfältig und zu elementar. Die Wirtschaft befindet sich im freien Fall. Menschen finden keine Jobs und verarmen. Viele Iraner haben deshalb das Vertrauen in die Regierung längst verloren.
Der Machtapparat
Einige Oppositionelle hoffen auf eine baldige Wende in Teheran. Reza Pahlevi, der Sohn des letzten iranischen Schahs, prophezeite einen Zusammenbruch des Regimes in den nächsten Monaten. Doch das könnte sich als Wunschdenken erweisen. Ajatollah Chamenei kann sich auf die Loyalität der Revolutionsgarde stützen, die gemeinsam mit den fanatischen und gefürchteten Basidsch-Milizen, einer Art Hilfspolizei, schon häufiger Aufstände brutal niedergeschlagen hat.
Zuletzt töteten Sicherheitskräfte Ende vergangenen Jahres bei den Benzinunruhen bis zu 1500 Demonstranten. Auch die Justiz steht weiterhin treu zu Chamenei und den Hardlinern.
Präsident Hassan Ruhani, der wichtigste gemäßigte Politiker des Regimes, verspricht zwar eine gründliche Aufklärung des Flugzeugskandals – doch erste Festnahmen treffen nicht die mutmaßlichen Verantwortlichen, sondern jene, die den Skandal an die Öffentlichkeit brachten.
Die Revolutionsgarde nahm der halboffiziellen Nachrichtenagentur Fars zufolge einen Mann fest, der ein Video vom Abschuss des Passagierjets verbreitete. Allerdings teilte die iranische Justiz auch mit, es seien mehrere Personen wegen ihrer Verantwortung für den Flugzeugabschuss festgenommen worden.
Die Proteste
Das dürfte den empörten Teil der Iraner kaum beruhigen. Viele Beobachter gehen davon, dass die Iraner in den nächsten Wochen und Monaten wieder auf die Straße gehen werden, um ihrem Unmut Luft zu machen. Wie schon in der jüngeren Vergangenheit werden sich die Proteste nicht darauf beschränken, Misswirtschaft und Korruption anzuprangern, sondern auch das Versagen der Führung. Aus Sicht des Regimes besonders alarmierend: In der Bevölkerung scheint die Protestbewegung im Land an Zuspruch zu gewinnen.
Die Wahlen
Ruhani, selbst langjähriges Mitglied des Establishments, sieht offenbar das Herrschaftssystem ernsthaft in Bedrängnis. Obwohl er das Problem nicht ausdrücklich beim Namen nennt, hat der Präsident offenkundig erkannt, dass die Führung es mit einer Vertrauenskrise in der Bevölkerung zu tun hat.
Ruhani fordert deshalb einen grundlegenden Wandel in der iranischen Politik. „Die Menschen wollen mit Aufrichtigkeit, Anstand und Vertrauen behandelt werden“, sagte er erst vor wenigen Tagen in einer Fernsehansprache. Er fügte hinzu: „Das Volk ist unser Meister, wir sind seine Diener.“
Ruhanis Plädoyer für eine „nationale Versöhnung“ kommt nicht von ungefähr. Der Präsident hat die Parlamentswahlen am 21. Februar im Blick und hofft, dass das Reformlager wieder siegreich aus der Abstimmung hervorgeht. Danach sah es bis zum Abschuss der Boeing nicht aus.
Denn Ruhani und seine Gefolgschaft haben keines ihrer Versprechen halten können. Vor allem ist der wirtschaftliche Aufschwung ausgeblieben. Die Hardliner schienen daher auf dem Vormarsch. Nun sieht Ruhani wohl die Chance, bei den Wahlen doch noch zu punkten.
Die Verhandlungsbereitschaft
Ein neuer Streit mit Europa um die Zukunft des internationalen Atomabkommens verschärft die Krise zusätzlich. Deutschland, Frankreich und Großbritannien werfen Teheran vor, die Vorgaben des Vertrages zu verletzen. Sie haben deshalb einen Mechanismus zur Streitschlichtung aktiviert, der zu neuen UN-Sanktionen gegen Teheran führen könnte.
Nach Informationen der „Washington Post“ reagierte Europa damit auf eine Drohung des amerikanischen Präsidenten Donald Trump, Strafzölle gegen europäische Autoimporte in die USA zu verhängen, falls die Europäer nicht eindeutig Stellung gegen den Iran beziehen sollten.
Dennoch betonte Ruhani am Donnerstag erneut, ein Dialog bleibe „möglich“. Viele Partner hat die Islamische Republik jedoch nicht mehr, und Verhandlungen über ein neues Atomabkommen, wie sie Trump fordert, lehnt Teheran bisher strikt ab.
Denn Chamenei hält an seinem großen strategischen Ziel fest, die USA aus dem Nahen Osten herauszudrängen, um in der Region freie Bahn zu haben. Bleibt es bei diesem Kurs und dem fehlenden Einvernehmen mit Europa, heißt das aber: Dem Regime gehen die außenpolitischen Optionen aus – zu einer Zeit, in der im Innern der Druck im Kessel steigt.