zum Hauptinhalt
Soldaten der iranischen Revolutionsgarden bei einem Protest wegen der Tötung von Qassem Soleimani.
© ATTA KENARE / AFP

Iran zündelt weiter: Zurück zur skandalösen Normalität

Erleichterung über die Deeskalation? Der Iran setzt Gewalt und Rechtsbruch auf einem Niveau fort, das als Alltag gilt, aber nicht akzeptabel ist. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Eine Eskalation zum offenen Krieg zwischen dem Iran und den USA wurde vermieden. Die Menschheit atmet auf. Die Feindseligkeiten sind zurück auf einem Niveau, das vor der Krise als „normal“ galt. Und deshalb auch jetzt wieder als Alltag hingenommen wird.

Alltag: Raketenbeschuss, Bruch diplomatischer Immunität

Darin zeigt sich die Perversion des Konflikts – und eine Perversion des Denkens über ihn. Denn was beinhaltet dieses „neue Normal“? Es ist das „alte Normal“, das erst kürzlich die Kriegsgefahr heraufbeschworen hatte.

Irakische Militärstützpunkte werden weiter mit Raketen beschossen, nur nicht vom Iran aus und von den Revolutionsgarden der Mullahs. Sondern von proiranischen Milizen im Irak.

Wenn Iraner die Opfer des abgeschossenen Passagierflugzeugs betrauern und gegen die aggressive Hegemonialpolitik ihrer Regierung protestieren, verbietet das Regime diese Demonstrationen – so wie es zuvor Proteste gegen die Wirtschaftslage niederschlug. Teheran nimmt sogar den britischen Botschafter fest, der bei diesen Kundgebungen präsent war - bricht also erneut das internationale Prinzip der Unantastbarkeit von Diplomaten.

Alles wie gehabt vor der Eskalation. Und darüber soll man erleichtert sein?

Eigentlich ist diese Lage skandalös. Aber vielleicht hat sie ein Gutes: Sie zeigt die Struktur des Konflikts. Und die Unterschiede zwischen dem Vorgehen des Irans sowie dem der USA und anderer westlicher Staaten, darunter die Europäer.

Die USA und die Europäer bemühen sich seit anderthalb Jahrzehnten, den Irak zu stabilisieren und ihm eine neue halbwegs demokratische und halbwegs rechtsstaatliche Normalität zu ermöglichen – nach einem Krieg, den die USA mit falschen Begründungen (Saddam Husseins angebliche Massenvernichtungswaffen) begonnen hatten. Mit rund der Hälfte der europäischen Nato-Staaten an ihrer Seite.

Destabilisierung als Prinzip der Machtpolitik

Der Iran tut das Gegenteil. Er hat kein Interesse an der Stabilisierung eines eigenständigen Iraks. Denn den könnte er nicht kontrollieren. Genauso wie er kein Interesse an einem stabilen eigenständigen Syrien, einem stabilen eigenständigen Libanon, einem stabilen eigenständigen Jemen hat.

Die Mullahs wollen die Hegemonialmacht in der Region sein. Weil aber ihr ökonomisches Potenzial und ihre Attraktivität als Regime nicht ausreichen, damit die Nachbarn sich freiwillig unterordnen, versuchen sie deren Unterordnung mit Gewalt zu erzwingen. Relative Stärke in der Region durch Destabilisierung der Nachbarn ist das Grundprinzip iranischer Machtpolitik.

Gewiss ist der Iran nicht der einzige Schuldige an der Normalität der Gewalt. Auch die Saudis streben eine Hegemonie an oder zumindest die Verhinderung der iranischen Hegemonie. Auch sie setzen Gewalt ein und haben, zum Beispiel, den Bürgerkrieg im Jemen eskalieren lassen.

Ebenso verfolgen die USA ihre Machtinteressen. Auch sie bedienen sich unlauterer Mittel. Zudem fällt Destabilisierung leicht, weil fast alle Regierungen in der Region schwach sind und viele Bürger aus Unzufriedenheit mit der Lage gegen sie protestieren.

US-Militär, Bundeswehr sind auf Bitten Bagdads im Irak, der Iran nicht

Dennoch ist es wichtig, sich gelegentlich die Unterschiede klarzumachen. Die Soldaten der USA und der Europäer, darunter die Bundeswehr, sind im Irak auf Bitten und mit offizieller Billigung der Regierung in Bagdad. Das gilt nicht für die militärische Präsenz proiranischer Milizen. Ähnlich im Libanon und anderen Bürgerkriegsländern. Die Iraner sind dort nicht auf Bitten und mit Billigung der Regierung aktiv. Sie haben auch nicht den Volkswillen der dortigen Bürger hinter sich.

Die Rückkehr zum verdeckten Krieg nach der Erleichterung über die Deeskalation geht vom Iran aus. Er setzt erneut die Mittel ein, die eben erst zur Eskalation geführt haben: Raketenbeschuss, Missachtung der Immunität von Diplomaten und der Unantastbarkeit diplomatischer Vertretungen. Es wirkt, als wolle das Mullah-Regime – oder zumindest Teile des Regimes – die USA erneut zu einem Gegenschlag provozieren.

Gespaltene Lager mit gegenläufigen Strategien in Teheran

Die erneuten Raketenangriffe auf Stützpunkte im Irak offenbaren, dass es verschiedene Lager in Teheran mit unterschiedlichen Interessen und Strategien gibt. Die Gemäßigten, darunter Außenminister Sarif, hatten zu Wochenbeginn betont, sie wollten Deeskalation. Die Falken kündigten schon damals weitere Angriffe an, unterstützt von Ajatollah Chamenei. Davon versprechen sie sich Vorteile vor der iranischen Wahl im Februar.

Das Ziel der Diplomatie sollte sein, zwischen den berechtigten und den unberechtigten Interessen Irans zu unterscheiden. Zu den berechtigten Interessen gehören sichere Grenzen und der Verzicht auf gewaltsamen Regimechange von außen.

Der Anspruch, die Nachbarn zu dominieren unter ihre Stabilität durch proiranische Milizen, verdeckte Militäraktionen, Terrorattacken und Attentate zu untergraben, gehört nicht dazu. Europas Regierungen und Diplomaten sollten das laut und deutlich sagen.

Zur Startseite