Kosovo: In einem geraubten Land
Seltsamer Staat: Keine eigene Währung, keine eigene Telefonvorwahl, keine Internetkennung. Das Kosovo hat seit dem Nato-Einsatz von 1999 nicht zur Normalität gefunden. Vielmehr scheint es in die Hände eines Verbrecherkartells gefallen zu sein.
Ein alter, schwarzer, verbeulter Fiat Punto tastet sich durch das Kosovo, als wäre die Straße sein Gegner. Der Fahrer blickt durch die gerissene Frontscheibe auf ein welliges, regelmäßig von Schotter unterbrochenes Asphaltband, auf einen schmalen Streifen Land, das Land der überfahrenen Hunde und Katzen und der vor sich hin kokelnden Straßenrandflora, das Land der Autowaschplätze und Tankstellen. Der Fahrer sieht all das, und er sieht noch etwas anderes. Er sieht einen Gabentisch für das besonders gut organisierte Verbrechen.
Der Fahrer, der nach dem Willen seiner Mutter Elvis heißen sollte, wogegen jedoch die Familie des Vaters etwas einzuwenden hatte und er also den Namen Ramadan bekam, spricht kauend in sein Blackberry-Telefon, er telefoniert oft während der Fahrt, ein paar Gespräche beginnt er mit dem Satz: „Mmh, ich habe einen Keks im Mund.“ Ramadan fastet nicht im Fastenmonat, seit er irgendwann zwischen seiner Geburt und diesem Tag im Herbst vom Islam zum Christentum wechselte. Er ist auf dem Weg zur Arbeit, nach Pristina. In die Hauptstadt seines Landes, in dem nicht nur die Straßen mehrere Sprachen sprechen. Das den Euro als Zahlungsmittel hat, aber weder zur europäischen Währungsunion, zur Europäischen Union und zum sogenannten Schengen-Raum gehört, noch nicht einmal zu den Vereinten Nationen. Es hat keine eigene Telefonvorwahl und keine eigene Internetkennung. Die Welt ist sich uneins darüber, ob dieses Land überhaupt ein Land ist. 81 Staaten meinen Ja, 112 Nein.
Sie ist ebenso gespalten bei der Frage, ob dieses Land von einer oder von zwei Regierungen geführt wird und ob es sich dabei überhaupt um Regierungen handelt oder bei mindestens einer davon nicht eher um ein Verbrecherkartell. Uneinigkeit bestünde folglich auch darin, ob der junge Mann hinter der gerissenen Scheibe seines alten Fiats ein Regierungskritiker ist oder auf Verbrecherjagd, und eindeutig zu beantworten ist nicht einmal, ob man ihn überhaupt für einen jungen Mann halten soll oder nicht. Nach mitteleuropäischen Maßstäben sieht er aus wie einer. Auch seine 26 Lebensjahre sprechen dafür. Hier im Kosovo bedeuten sie, dass Ramadan Ilazi mittlerweile ein überdurchschnittlich hohes Alter erreicht hat. Das ist die Lage. Übersichtlich ist sie nicht.
Ramadan Ilazi ist Korruptionsbehinderer von Beruf. Und das Kosovo gilt den Menschen und Organisationen, die etwas mehr als nur Mutmaßungen darüber anstellen können, als besonders korrupt. Es liegt auf Platz 110 in der aktuellen Länderrangliste der Organisation Transparency International. Griechenland ist sauberer, es belegt Platz 78, Russland 154.
Es sind Ilazis letzte Tage als Chef der Organisation FOL, im Herbst wird er wieder an eine Universität zum Studieren gehen. Er muss oft Abschied nehmen in diesen Tagen und die Amtsübergabe an seinen Nachfolger regeln. Ilazi hat FOL vor dreieinhalb Jahren mitgegründet, es ist eine der Tausenden sogenannten Nichtregierungsorganisationen im Kosovo, von denen die meisten nichts anderes zu sein scheinen als Fördergeldbeschaffungsmaschinen. FOL indes gehört zu jenem Zehntel, von dem Fachleute annehmen, dass dort tatsächlich irgendeine Art inhaltlicher Arbeit stattfindet. FOL kümmert sich um Bestechung und Bestechlichkeit von Amtsträgern.
Ilazi sagt, er sei irgendwann zu der Überzeugung gekommen, dass dies die größte Gefahr sei für sein Land. Größer als der alte und immer noch gewalttätig ausgetragene Streit zwischen Kosovos Albanern und Kosovos Serben im Norden des Landes, wo die Belgrader Regierung einen größeren Einfluss auf alles hat als die in Pristina. Der Kosovo-Albaner Ilazi will sein Land zurück, und zwar von den eigenen Leuten.
Regelmäßig gibt die Organisation FOL einen „Korruptionsmonitor“ heraus. Sie vergleicht die Angaben, die Parlamentarier gegenüber der Anti-Korruptions-Behörde zu ihren Vermögen machen mit denen, die sie der Wahlkommission zukommen lassen, und dokumentiert die Differenzen dazwischen. Sie dokumentiert die Differenzen zwischen aktuellen Angaben und solchen aus dem Vorjahr. Die Differenzen sind gelegentlich Millionenbeträge. Sie dokumentiert die Anzahl der Korruptions-Ermittlungsverfahren, die sich daraus ergebenden Anklagen und Urteile. Sie hantiert mit Zahlen, denen man nicht ansieht, ob sie korrekt sind, nachlässig zusammengestellt oder manipuliert. In ihrer Gänze aber ergeben sie ein Bild. Es ist das Bild eines in Verbrecherhände gefallenen Staates.
Es geht um Menschen-, Drogen- und Waffenhandel, es geht um die Privatisierung von Staatsbesitz, um Brauereien, Telefonfirmen und Benzin, und es geht um das Terrain der überfahrenen Haustiere, die Straßen.
Aus einem vertraulichen Bericht des Berliner Instituts für Europäische Politik für die Bundeswehr: „Unter den Augen der Internationalen Gemeinschaft“ haben sich „mittlerweile mehrere Multi-Millionen-Euro-Organisationen entwickelt, die sowohl über Guerilla-Erfahrung als auch über Geheimdienstexpertise verfügen. Ein umfangreiches Waffenarsenal sichert diese Gruppierungen dabei ebenso vor externen Zugriffen ab wie das hohe soziale Ansehen ihrer Führer ... eine nahezu infiltrationsresistente Clanorganisation sowie die weitgehende Kontrolle über den Regierungsapparat vervollständigen den lokalen Herrschaftsanspruch.“
Ein vor einigen Jahren an die Öffentlichkeit gelangter Bericht des Bundesnachrichtendienstes von 2005 behauptet: „Über M., F. und dessen in Pristina ansässige Firma S. wird Thaci mit Geldwäsche, Treibstoff- und Zigarettenschmuggel in Verbindung gebracht.“ „Thaci wird von L. über dessen in Schmuggelaktivitäten verwickeltes Firmengeflecht D. finanziell unterstützt.“ „Thaci gilt neben H., S. und V. als Auftraggeber des Profikillers A., genannt B.“
Ein ebenso öffentlich zugängliches, Anfang dieses Jahres der britischen Zeitung „The Guardian“ zugespieltes vertrauliches Nato-Dokument, erstellt mit dem Kenntnisstand aus dem Jahr 2004, nennt Thaci einen der drei „größten Fische“ des organisierten Verbrechens im Kosovo.
Thaci, Vorname Hashim, ist Regierungschef. Er schaut jetzt lächelnd auf den alten Fiat herunter. Ein Großplakat, ein Kopf, ein Hals, ein weißes Hemd, weit oben angebracht an einer Fassade in Pristinas Stadtzentrum, hinter der Thacis Partei ihrer Arbeit nachgeht.
Ilazi parkt sein Auto zwischen Wagen gleicher Güte, nestelt das Telefon in die Hosentasche, er hat es jetzt eilig. Ilazi rennt durch Pristina. Eine 200 000-Einwohner-Stadt mit kurzen Wegen und vielen einander bekannten Gesichtern. Man sieht hohe Amtsträger in Straßencafés sitzen, manche nicken dem vorbeihetzenden Ilazi zu. Ilazi rennt, er hat Verabredungen mit Tippgebern, Regierungsangestellten, Uno-Leuten, Botschaftspersonal, Journalisten. Er redet mit ihnen. In diesem Moment auch wieder, auch ein Straßencafé, Ilazi und ein Mann an einem Tisch, über ihnen eine Markise, an der ein Wasserzerstäuber hängt. Feine Tropfen stehen regungslos in der Luft, Mini-Wolken, sie verdunsten rasch.
Als die beiden aufbrechen, gehen sie noch ein Stück gemeinsam. „Hast du gesehen?“, sagt Ilazi nach einer Weile, er sagt: „Limaj.“ Nein, hat der Mann nicht gesehen, es ist auch bereits zu spät, sich umzudrehen nach demjenigen, der ihnen gerade entgegengekommen war. Man sieht nur Menschenrücken.
Fatmir Limaj war bis zum vergangenen Jahr Minister für Transport und Telekommunikation im Kosovo. Gegen ihn wird seitdem wegen Unterschlagung von angeblich 80 Millionen Euro ermittelt, die im Zuge eines Autobahnbaus verschwunden sein sollen. Was aber in diesem Moment hier auf der Straße noch niemand weiß, ist, dass Limaj ein paar Wochen später unter Hausarrest gestellt werden wird. Sein Pass wird eingezogen werden. Er soll Ende Oktober vor einem Gericht in Pristina stehen. Die Anklage lautet auf Kriegsverbrechen. Offenbar ist der Prozess auch nicht gefährdet durch den Umstand, dass der Hauptbelastungszeuge Ende September in einem Duisburger Park tot aufgefunden worden war.
Der Mann, der im Rahmen eines Zeugenschutzprogramms in Deutschland war, hat sich offenbar selbst getötet. In einer SMS sandte er eine entsprechende Ankündigung an seinen Bruder, ein Polizeisprecher sagte, die Spurensicherung habe keine Hinweise auf ein Fremdverschulden gefunden, die Rechtsmedizin dagegen sehr wohl welche auf eine Selbsttötung. Von einer „depressiven Vorerkrankung“ ist die Rede. Die Aussage des Mannes, der von den Behörden „Zeuge X“ genannt wurde, ist auf Video und schriftlich dokumentiert.
„Hast du gesehen? Limaj“, hat Ilazi gesagt. Es war nichts Triumphierendes in seiner Stimme, obwohl er zu den Unterschlagungs-Ermittlungen gegen Limaj möglicherweise beigetragen hat, FOL enthüllte gesetzeswidrige Interessenkonflikte bei dessen Ministeriumspersonal. Es gab auch nichts, was nach Ehrfurcht oder Angst geklungen hätte. Es klang beiläufig.
In der Tat hat der Fall Limaj, so spektakulär er auch ist, etwas Alltägliches. Er entspricht einem Muster. Limaj war im Krieg. Die laut Verfassungsschutzbericht des Jahres 1998 „in ihrer Heimat terroristisch operierende ,Befreiungsarmee von Kosovo’ (UCK)“ beschäftigte ihn als Kommandeur. Die UCK kämpfte damals für die Unabhängigkeit des Kosovo von einer demütigenden jugoslawischen Obrigkeit, begann eine militärische Offensive, erlitt einen Gegenschlag, die Nato griff ein, die immer noch offiziell jugoslawische, später serbische Provinz Kosovo kam unter UN-Verwaltung, im Jahr 2008 proklamierte sie ihre Unabhängigkeit. Die UCK-Führer waren Volkshelden, sie gründeten Parteien, kamen ins Parlament und in die Regierung. Korruptionsvorwürfe kamen auf und Vorwürfe wegen Kriegsverbrechen. Manchmal starben Belastungszeugen. Manchmal schwiegen sie aus Angst.
Manchmal mag auch Ramadan Ilazi nichts mehr sagen. Seit dreieinhalb Jahren sammelt er Zahlen und Indizien, stellt Fragen, informiert Behörden und merkt dann oft, dass dies alles folgenlos bleibt. Kaum jemand fragt weiter, sagt er, kaum jemand ermittelt. Er sagt, dass mittlerweile viele andere auch entmutigt seien. Er könne das messen. Die Momente jedenfalls, in denen sich jemand bei ihm meldet und einen Verdachtsfall schildert oder gar Beweise liefert, werden seltener. Es verlasse ihn ein bisschen die Kraft, sagt er.
Er hat sich deswegen extra einen gelben Zettel auf die Innenseite der Fiat-Frontscheibe geklebt. Darauf steht ein Bibelzitat. „You, Lord, give perfect peace to those who keep their purpose firm and put their trust in you.“ Luther hat den Satz so übersetzt: „Du erhältst stets Frieden nach gewisser Zusage; denn man verlässet sich auf dich.“ Ein Blick auf den Zettel, sagt Ilazi, und das reicht dann meistens für den Rest des Tages.
Dieser Tag indes ist ohnehin ein guter für Ilazi. Jemand, der es wissen muss, eine jener Straßencafébekanntschaften, hat ihm davon erzählt, dass sich in der Welt draußen etwas ändert. Hashim Thaci würden offenbar keine Staatsbesuche im Ausland mehr gewährt. 27 entsprechende Anfragen soll seine Regierung in diesem Jahr bereits gestellt haben, alle seien abgelehnt worden. Und dann hat am Morgen in der Zeitung gestanden, dass nun wegen eines besonders schweren Vorwurfs gegen ihn ermittelt wird.
Die Eulex, Rechtsstaatlichkeitsmission der EU im Kosovo, 2000 internationale und 1000 kosovarische Polizisten, Richter, Staatsanwälte, Zollbeamte stark, hat ein entsprechendes Team zusammengestellt. Thaci sagt, er wolle die Untersuchungen unterstützen.
Es geht um einen Ende 2010 veröffentlichten Bericht des Schweizer Europarats-Abgeordneten Dick Marty, dem zufolge Thaci am Handel mit Organen von dafür getöteten Kriegsgefangenen beteiligt gewesen sein soll. Der Bericht verschweigt seine Informationsquellen und ist deshalb umstritten. Thaci wehrte sich gegen die Vorwürfe. Kurz darauf wiederum wurden zwei – den Organhandel bestätigende – Uno-Berichte über bereits 2003 und 2004 angestellte Untersuchungen serbischen Zeitungen zugespielt. Sie beruhen auf Zeugenaussagen und beschreiben eine Besichtigung des vermeintlichen Tatorts. Dort seien Indizien gefunden worden, „Spritzen“, „Tablettendosen“, „mit Operationskleidung übereinstimmende Materialfragmente“. Eindeutige Beweise indes fanden sich offenbar nicht.
Der Fiat verlässt Pristina. Er passiert den Bill-Clinton-Boulevard mit der Bill-Clinton-Statue. Ein wenig vornübergebeugt steht der einstige US-Präsident auf einem Sockel, die Linke zum Gruß erhoben. In der rechten Hand hält er eine Aktenmappe, darauf das Datum „24. 3. 1999“, der Tag, an dem die Nato damit begann, Jugoslawien zu bombardieren und damit zum Rückzug aus dem Kosovo zu bewegen. Ramadan Ilazi hat diese Hand einmal gehalten.
Eine Sporthalle in Ilazis Heimatstadt Ferizaj im November 1999. Er war ein Flüchtlingskind damals, gerade zurückgekehrt aus einem Zeltlager in Mazedonien. Er lebte vom Zigarettenverkaufen an amerikanische Soldaten, und weil er gut Englisch sprach, wurde er zu einem ihrer Übersetzer. Deswegen wiederum wurde er ausgewählt, um Clinton bei seinem Besuch zur Feier des Kriegsendes zu begrüßen.
„Vielen Dank, Präsident Clinton“, sagte er damals. „Ich heiße Ramadan Ilazi, ich gehe in die achte Klasse. Sie haben versprochen, uns sicher in unsere Heimat zurückzubringen. Sie haben Ihr Versprechen gehalten.“
Er besitzt ein gerahmtes Foto davon. Er und Clinton händeschüttelnd, in der Linken hält der Präsident einen Pappbecher. „Das war schon ein wichtiger Moment damals“, sagt Ilazi, „bis dahin wollte ich Pilot werden.“ Er fährt raus aus Pristina, an einem seiner letzten Tage als Chef der Organisation FOL, bald wird er wieder Student sein, weil es ja weitergehen muss, wenigstens mit ihm. Er fährt raus, kein bisschen schneller, als er am Morgen reingefahren war. Vor ihm liegt die Straße.
Torsten Hampel
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