Nach Bränden in Flüchtlingslager: Deutschland nimmt bis zu 150 Kinder aus Moria auf
Zehn EU-Staaten nehmen 400 Kinder aus Moria auf. Dies kündigte Innenminister Seehofer an. Geplant ist zudem ein neuer Anlauf für eine EU-Flüchtlingspolitik.
Nach den Bränden im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos will Deutschland den Migranten dort helfen. Dies kündigte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) am Freitag bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit EU-Migrationskommissar Margaritis Schinas, der per Video zugeschaltet war, in Berlin an. Rund 12.000 Menschen im Camp Moria seien obdachlos geworden. „Es ist eine besondere humanitäre Notlage“, sagte Seehofer.
Am wichtigsten sei die Hilfe vor Ort, sagte Seehofer. Die Menschen bräuchten wieder Unterkünfte und Versorgung. Die griechische Regierung habe hierfür eine Bedarfsliste übermittelt. Hilfsorganisationen in Deutschland hätten sich bereits zusammengetan, um möglichst viele der erbetenen Hilfsleistungen erbringen zu können.
Der zweite Punkt sei die Hilfe für unbegleitete Minderjährige. Insgesamt zehn EU-Staaten wollen sich Seehofer zufolge bis jetzt an der Umsiedlung beteiligen. Den größten Anteil mit je 100 bis 150 Kindern würden Deutschland und Frankreich übernehmen.
Weitere acht EU-Länder hätten sich bereit erklärt, sich zu beteiligen. So würden die Niederlande 50 Kinder aufnehmen. Man sei aber noch mit weiteren Ländern im Gespräch, sagte Seehofer. Eine genaue Zahl für Deutschland könne erst genannt werden, wenn diese Gespräche abgeschlossen seien.
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Der Bundesinnenminister kündigte zudem an, dass weitere Schritte folgen würden. Dies müsse aber „immer im europäischen Verbund“ geschehen. Über die mögliche Größenordnung bei einer weiteren Aufnahme von Flüchtlingen wollte er sich nicht äußern: „Ich will keine Zahl für einen zweiten Schritt nennen.“ Sein Vorschlag sei es, sich auf „Familien mit Kindern“ zu konzentrieren, sagte Seehofer.
Der Innenminister wandte sich aber gegen einen deutschen Alleingang. Wenn Deutschland allein handeln würde, könne eine europäische Lösung zu den Akten gelegt werden. Eine Verständigung auf EU-Ebene sei eine „Herkulesarbeit“. „Das ist ein dickes Brett, das hier gebohrt werden muss“ , sagte der Minister und fügte hinzu: „Die Migration ist das wichtigste Thema für die Europäische Union.“ Er mahnte zugleich an, nicht auf alle EU-Länder zu warten. Es müsse rasch mit jenen Staaten begonnen werden, „die gutwillig sind und mitmachen wollen“.
Offenbar wurden die Feuer in Moria von Migranten gelegt
Das Lager Moria war in der Nacht zum Mittwoch bei mehreren zeitgleichen Bränden fast vollständig zerstört worden. Statt der vorgesehenen rund 3000 Migranten waren dort rund 12.000 Menschen untergebracht. Die griechische Regierung stellte gezielte Brandstiftung als Auslöser fest.
Einige der Migranten sollen Feuer gelegt haben, nachdem für die Bewohner des Lagers wegen Coronavirus-Infektionen Quarantäne verordnet worden war. Die „Nicht-Lösung“ in den Verhandlungen zu einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik habe zu der jetzigen katastrophalen Situation auf Lesbos geführt, sagte Seehofer.
Die EU-Kommission wird Schinas zufolge am 30. September einen neuen Anlauf für eine gemeinsame EU-Flüchtlingspolitik vorlegen. Die Initiative habe drei Elemente. Einerseits wolle man mit größerer Hilfe für Entwicklungsländern dafür sorgen, dass Menschen gar nicht erst ihre Heimat verließen.
Zum anderen wolle man die EU-Außengrenzen besser und „robust“ mit einer neuen Küstenwache und mehr Personal schützen. Drittens wolle man ein dauerhaftes System von Solidarität unter allen EU-Staaten erreichen, um die Herausforderungen durch Asylbewerber zu bewältigen.
Schinas sagte: „Moria existiert nicht mehr.“ Mit Hilfe der EU solle nun eine neue, modernere Einrichtung errichtet werden, in der Asylverfahren schneller durchgeführt werden könnten. Dies wolle er dem griechischen Premier Kyriakos Mitsotakis vorschlagen.
Seehofer: Neues Zentrum könnte „Blaupause“ für andere sein
Seehofer sprach mit Blick auf das geplante Lager von einem „neuen Zentrum mit einer ganz anderen Qualität“. Das geplante Lager könne auch als „Blaupause“ für andere Lager in anderen EU-Staaten dienen. Einen Zeitplan gebe es noch nicht, sagte Schinas. Das Lager solle aber „so bald wie möglich“ fertiggestellt werden. Die EU werde den Bau unterstützen – auch finanziell.
Schinas gab zu, dass die EU-Kommission 2016 mit einem ersten Anlauf gescheitert sei, eine gemeinsame Flüchtlingspolitik zu vereinbaren. „Moria ist für uns eine sehr starke Mahnung hinsichtlich dessen, was wir in Europa ändern müssen“, sagte er mit Blick auf das abgebrannte Flüchtlingslager.
Schinas betonte zudem, dass die Zahl der Personen in dem Flüchtlingslager in den vergangenen Monaten bereits von 25.000 auf 12.000 Personen habe reduzieren können. Das habe die Lage auf der Insel Lesbos entspannt. „Die Situation wäre heute wesentlich schlimmer ohne diese Anstrengungen“, sagte der EU-Kommissar.
Griechen bauen provisorisches Zeltlager auf Lesbos
Die Bundesregierung zeigte sich bestürzt über die Lage auf Lesbos. „Die Brände in Moria haben viele Menschen, die in diesem Lager schon vorher in einer schwierigen, oft verzweifelten Situation waren, nun wirklich in eine entsetzliche Lage gebracht“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. „Die Bilder auf der Straße campierender Flüchtlinge und Migranten, oft ganzer Familien, die so die Nacht verbringen mussten, die gehen jedem nahe.“
Wie die Nachrichtenagentur dpa berichtet, haben die griechischen Behörden inzwischen mit der Errichtung eines provisorischen Zeltlagers begonnen. Darin soll bis auf Weiteres ein Großteil der mehr als 12.000 Migranten untergebracht werden. Demnach soll das Lager auf einem Schießübungsfeld der griechischen Armee errichtet werden. Das Gelände liegt nur wenige Kilometer nördlich der Inselhauptstadt Mytilini an der Küste. In der Nähe befindet sich bereits ein kleineres Lager namens Kara Tepe, das vom UN-Flüchtlingshilfswerk und der Gemeinde Mytilini betrieben wird.
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Aus Angst vor der Reaktion der Inselbewohner, die die Schließung des Lagers Moria und die Abreise aller Migranten fordern und sich auch gegen den Aufbau neuer Lager stemmen, hatte Athen die Polizeieinheiten auf Lesbos am Freitagmorgen mit Wasserwerfern und Personal verstärkt.
Göring-Eckardt spricht von „Tropfen auf heißen Stein“
Die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt kritisierte die geplante Aufnahme einiger Hundert Jugendlicher als zu wenig. „Das hat nichts mit Humanität und Ordnung zu tun, die herrschen muss, das ist ein Tropfen auf einen heißen Stein, der schon verdampft ist, bevor er überhaupt ankommt“, sagte Göring-Eckardt der Deutschen Presse-Agentur. Noch immer seien 4000 Kinder zusammen mit ihren Eltern vor Ort. „Das hat nichts mit Europas Werten zu tun.“
Göring-Eckardt verlangte von Deutschland, mehr Menschen aufzunehmen als die geplanten 150 Minderjährigen. „Das ist gut für jedes einzelne dieser 150 Kinder, aber es hat nichts mit Bewältigung dieser Krise zu tun“. Deutschland solle vorangehen und „zeigen, was geht“. Die Politikerin sprach sich dafür aus, dass willige Staaten Geld für die Aufnahme der Menschen bekommen.
Linke greifen Seehofer im Bundestag scharf an
Die Fraktionen im Bundestag lieferten sich am Freitag der Agentur dpa zufolge heftige Wortgefechte um die richtige Antwort auf den Brand in Moria. „In Moria sind die Werte der Europäischen Union in Flammen aufgegangen“, erklärte Linksfraktionschef Dietmar Bartsch. Bartsch zitierte ausgiebig aus der Bibel und warf Seehofer vor: „Ihr Agieren ist nicht christlich, Ihr Agieren ist unmenschlich.“
Die Linksfraktion forderte, dass Deutschland in einem ersten Schritt die mehr als 12.000 Menschen aus Moria aufzunehmen, soweit diese nicht in andere aufnahmebereite Länder möchten.
Seehofer betonte, Deutschland habe seit 2015 insgesamt 1,73 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Inzwischen kämen an jedem Werktag wieder 300 bis 400 weitere Menschen ins Land. „Wir nähern uns wieder den Höchstzahlen der Vergangenheit.“
Dass Deutschland nun 100 bis 150 Jugendliche von Moria aufnehme, sei ein „ganz konkretes Beispiel praktizierter Nächstenliebe“. Man werde alles daran setzen, dass diese noch im September kommen könnten.
AfD nennt Migranten in Moria „Feuerteufel“ und „Erpresser“
Der innenpolitische Sprecher der AfD-Fraktion, Gottfried Curio, wies darauf hin, dass die griechischen Behörden davon ausgehen, dass Migranten die Feuer in Moria legten. Zuvor war es dort zu Corona-Infektionen gekommen, worauf eine Quarantäne verhängt wurde. „Man macht sich hilflos, um dadurch Ansprüche zu erpressen“, sagte Curio über die Migranten, die er auch als „Feuerteufel“ und „Erpresser“ bezeichnete.
Die innenpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Ute Vogt, lobte Seehofer dafür, dass dieser sich bereits seit einem Jahr um europäische Lösungen in der Migrationspolitik bemühe. NRW-Integrationsminister Joachim Stamp von der FDP erinnerte die Linksfraktion daran, dass in Griechenland bis vor kurzem noch der linke Alexis Tsipras Ministerpräsident war und forderte von Seehofer mehr Engagement und Tempo.
Die flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, Luise Amtsberg, forderte die Notversorgung und Aufnahme für die Migranten von Moria, wie es bei anderen Katastrophen auch Priorität habe – hier werde „mit zweierlei Maß gemessen“.
Auch die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl und weitere Sozial- und Wohlfahrtsverbände forderten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in einem offenen Brief zur sofortigen Hilfe für die Menschen in Moria auf. In einem am am Freitag von Pro Asyl veröffentlichten Brief an Merkel heißt es: „Die dramatische Zuspitzung auf Lesbos macht klar: Die Schutzsuchenden von den griechischen Inseln müssen evakuiert werden!.“, heißt es in einem am Freitag von Pro Asyl veröffentlichten Brief an Merkel.
„Einer Katastrophe dieses Ausmaßes kann nicht mit Minimallösungen begegnet werden – wie einem Transfer von 400 unbegleiteten Minderjährigen auf das griechische Festland. Es braucht eine dauerhafte Lösung für alle Betroffenen – und die heißt Aufnahme in anderen europäischen Ländern.“ Zu den Unterzeichnern des Briefes gehören auch die Caritas, die Diakonie, die Verbände Der Paritätische, Brot für die Welt und andere.
Zehn deutsche Städte bieten an, Migranten aus Moria aufzunehmen
Auch die Stadtoberhäupter von zehn großen deutschen Kommunen hatten sich in einem gemeinsamen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Seehofer gewandt und ihre Bereitschaft erklärt, Flüchtlinge aus aufzunehmen. In dem Schreiben appellieren sie an Merkel und Seehofer, dafür den Weg zu ebnen. Der Brief wurde von den Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeistern folgender Städten unterzeichnet:
- Bielefeld
- Düsseldorf
- Freiburg
- Gießen
- Göttingen
- Hannover
- Köln
- Krefeld
- Oldenburg
- Potsdam
Die Stadtoberhäupter bekräftigten in dem Brief ihre Bereitschaft, „einen humanitären Beitrag zu einer menschenwürdigen Unterbringung der Schutzsuchenden in Europa“ zu leisten: „Wir sind bereit, Menschen aus Moria aufzunehmen, um die humanitäre Katastrophe zu entschärfen.“ Sie zeigten sich in ihrem Schreiben „entsetzt darüber, dass es der Europäischen Union trotz vielfacher Warnungen nicht gelungen ist, diese Eskalation in Moria zu verhindern und die menschenunwürdigen Bedingungen in den Lagern an den europäischen Außengrenzen fortbestehen“.