Erfinder des EU-Türkei-Deals für Flüchtlinge: „In vier Monaten haben wir die nächste große Krise“
Gerald Knaus gilt als Kopf hinter dem EU-Abkommen mit der Türkei. Im Interview zieht er eine Zwischenbilanz und warnt vor Europas noch größeren Problemen.
Gerald Knaus wurde 1971 in Österreich geboren, studierte in Rom, Bologna und Oxford und arbeitete viele Jahre für NGOs, die UN und an Universitäten, darunter Harvard. In einem Café in Sarajevo gründete Knaus mit Freunden 1999 die „European Stability Initiative“ (ESI). Hauptgeldgeber sind heute die Stiftung Mercator und Schwedens Behörde für Entwicklungszusammenarbeit. ESI ist für Migrationskonzepte bekannt. Die Denkfabrik arbeitet aber auch zu Korruption und Demokratieabbau. Expertise-Schwerpunkt sind Südost-, Osteuropa und die Türkei.
Herr Knaus, die Bilder von den griechischen Inseln gehen ans Herz, außer Appellen passiert aber wenig.
Ich war im Dezember 2018 auf Lesbos, und die Situation war damals schon inakzeptabel. Zu wenig Unterkünfte, Ärzte, Sicherheit, erniedrigende Prozeduren, etwa bei der Essensvergabe, und Orientierungslosigkeit aller, die dort ankamen. Niemand konnte erklären, wer wie lange bleiben müsse. Damals war es fünf vor zwölf. Heute ist es fünf nach zwölf, die Situation noch um vieles schlimmer. So wie die EU und griechische Behörden dort seit Jahren agieren wird alles in naher Zukunft zusammenbrechen.
Die Vermutung vieler Kritiker der EU-Migrationspolitik ist: Die Lage auf den Inseln ist gewollt, sie schreckt andere Menschen von Fluchtplänen ab.
Selbst wer so zynisch denkt, muss heute zugeben: Es funktioniert nicht. Zwischen September und November 2019 kamen in drei Monaten 30.000 Menschen. Im letzten Jahr kamen 74.000 Menschen aus der Türkei nach Griechenland. Rechnen Sie das hoch auf die Bevölkerung: Das entspräche in Deutschland 600.000! Seit Jahren hören wir: "2015 darf sich nicht wiederholen." Doch Griechenland erlebte gerade ein 2015, und es wird 2020 wohl noch schlimmer, wenn nichts passiert. Auch wenn deutsche Städte lobenswerterweise anbieten, einige Tausend Menschen aufzunehmen: Allein löst das die Krise nicht. Dafür braucht es eine Strategie.
Ist das EU-Türkei-Abkommen, dessen Vordenker Sie und Ihr Institut ja waren, damit gescheitert?
In Griechenland ist es von Anfang an gescheitert. In der Türkei war es von Anfang an ein Erfolg und hat das Leben von Millionen verbessert. Würden heute nicht 680.000 syrische Kinder in der Türkei in die Schule gehen, wäre das Gesundheitssystem nicht für Syrer offen, dann wären in letzten Jahr sehr viel mehr als nur 16.000 der über drei Millionen Syrer in der Türkei nach Griechenland gekommen.
Sind Sie denn heute mit der Umsetzung des Abkommens zufrieden?
Natürlich nicht. Nur war im Winter 2016 die Alternative zum Abkommen keine menschenrechtsfreundlichere Politik, sondern Chaos. Und so ist es immer noch. Was wir auf Lesbos sehen, ist das Ergebnis. Die Alternative zum Chaos ist auch heute noch, das Abkommen tatsächlich umzusetzen. Da genügen Slogans nicht, auch nicht die Kampagne mancher NGOs: "Öffnet die Inseln." Ja, die Regierung in Athen wird die 40.000 Menschen von den Inseln auf das Festland bringen müssen. Aber das wird die Lage nicht verbessern, wenn sofort mehr nachkommen.
Was läuft schief?
In den ersten drei Monaten im Winter 2016, vor dem Abkommen, kamen 150.000 Menschen auf die Inseln und es ertranken 380. In den ersten drei Monaten 2017 kamen nur 4000 und es ertranken 13. Das war ein Erfolg. Und die Zahlen Ankommender stiegen bis Sommer 2019 kaum. Doch die Zeit wurde nicht genutzt. Das Abkommen sah vor, dass die in die Türkei zurückgebracht werden, die keinen Schutz in der EU brauchen. Das sind die allermeisten Syrer, die in der Türkei sofort einen Schutzstatus bekommen, den Millionen seit Jahren schon haben. Und es sind die, deren Asylantrag abgelehnt wird.
Doch immer muss es ein faires Verfahren geben. Und man muss Asylanträge bearbeiten, auch wenn es nur 10.000 in einem halben Jahr sind, wie 2017. Aber das geschah nicht. Stattdessen wurden fast alle Ankommenden nach langem Warten aufs Festland gebracht. In drei Jahren, von 2017 bis 2019, kamen 122.000 Menschen auf die Inseln. In dieser Zeit wurde ein Prozent von ihnen in die Türkei zurückgebracht. Und es wurden jedes Jahr weniger.
Könnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge helfen, um die Verfahren vor Ort auf den Inseln deutlich zu beschleunigen?
Das Bamf ist die größte Asylbehörde der Welt, hat in den letzten Jahren sein Personal vervielfacht, auch sehr viel in Qualitätssicherung investiert. Natürlich könnte es helfen, wenn sich Berlin und Athen einig darüber werden, wie. Auch andere Asylbehörden aus der EU könnten mitmachen. Das Ziel muss es sein, Entscheidungen in einigen Wochen zu treffen. Und dann Griechenland anerkannte Flüchtlinge abzunehmen. Es fehlt nur der Auftrag.
Der politisch gesetzt werden müsste.
Ja, das muss von den Regierungschefs kommen. Heute müssten sich Mitsotakis und Merkel, Rutte und Macron zusammensetzen und sagen: Wir schaffen das. Wir zeigen, wie eine humane Grenze mit Kontrolle aussieht. Und wir lassen dabei weder Athen noch Ankara noch den Westbalkan im Stich. Es wäre im deutschen Interesse, denn Deutschland bleibt Hauptzielland für jene, die das griechische Festland erreichen.
Und die Gretchenfrage: Was geschieht mit den Menschen am Ende, deren Verfahren rasch abgeschlossen sind - wo kommen die hin?
Das hat die EU schon einmal gelöst. Nach dem Abschluss der EU-Türkei-Erklärung wurden 22.000 Menschen aus Griechenland mit dem Flugzeug in der EU verteilt. Dazu bislang auch 25.000 Menschen aus der Türkei. Man könnte sofort ein Zeichen setzen und Familienzusammenführungen beschleunigen. Aber ohne auch die Rückführungen in die Türkei zu erhöhen, wird das die Krise nicht entschärfen. Und so bewegt sich derzeit auch keine Regierung in Europa.
Sie reden in Europa mit vielen Entscheidungsträgern. Sehen die das nicht?
Doch, viele sehen es. Aber Sehen genügt nicht. Ich bin zwar überzeugt, dass das, was ich vorschlage, funktionieren würde, aber bislang gab es so etwas noch nie. Es wäre etwas Neues in der europäischen Kooperation, und das ist immer mühsam. Dazu kommt, dass viele in der EU die Dringlichkeit unterschätzen. Es passiert ja viel: Libyenkrieg, Trumps Tweets, Ukrainekonflikt, Brexit, Klimawandel. Jede Regierung jongliert täglich mit Dutzenden Themen.
Wenn dann die Zahl der Asylanträge in Deutschland fällt, dazu die Zahl jener, die das Mittelmeer überqueren, ist die Versuchung groß, das Problem zu ignorieren. So wird ein Feuer nach dem anderen bekämpft, anstatt sich Gedanken über die Brandschutzordnung zu machen. Und in Brüssel werden parallel Vorschläge für große Asylreformen diskutiert, die nie eine Chance auf Umsetzung haben.
Das ist alles?
Dazu kommt ein mit Händen zu greifendes Misstrauen, nach so vielen unerfüllten Zusagen. Menschen in Lesbos trauen weder Athen noch der EU. In Athen fragt man sich, ob dem Rest der EU Griechenland wichtig ist. Im Norden der EU fragt man sich, ob es Athen ernst meint. Die Türkei sieht, wie die EU in der Ägäis scheitert. In der EU beschuldigt man die Türkei. Auch viele NGOs erklären überzeugend, was nicht klappt, machen aber dann keine umsetzbaren Vorschläge. So kommen wir nie weiter. Man muss konkret zeigen, wie mehrheitsfähige Lösungen allen helfen könnten.
Was erwarten Sie?
Das griechische Asylsystem kann die Situation heute nicht bewältigen. Die derzeitige Hilfe für Athen bleibt Stückwerk. Dass sich der reichste Kontinent der Welt unfähig zeigt, selbst mit einer geringen Zahl Ankommender human umzugehen, ist ein Armutszeugnis. 2018 und 2019 kamen insgesamt nicht mehr als 120.000 Menschen im Jahr über das gesamte Mittelmeer. Damit soll die EU überfordert sein? In vier Monaten haben wir die nächste große Krise. Die Gefahr: dann schlägt wieder die Stunde der Demagogen. Jene, die fordern, wir sollten das Asylrecht und Rechte gleich ganz in Frage stellen. Orbáns Ungarn tut das seit Jahren.
Was meinen Sie?
Wir erleben ständige Gesetzesbrüche, etwa die Abweisungen von Menschen an Europas Landgrenzen ohne jedes Verfahren. Das ungarische Asylgesetz ist ein Menschenrechtsskandal, doch seit Jahren in Kraft. In Zagreb wurden zwei nigerianische Touristen über die Grenze nach Bosnien gestoßen, weil Push-backs zur Politik wurden. Und je länger das alles passiert, desto mehr verlieren wir die Fähigkeit zur Scham. Wir haben uns an Zustände gewöhnt, die uns in Budapest im September 2015 noch schockiert haben.
Zum Beispiel auf den griechischen Inseln?
Dort und anderswo. Die Politik der EU, Migration aus Libyen zu stoppen, beruht seit 2017 auf der Kooperation mit Gruppen, die Menschen in Lagern festhalten, wo sie misshandelt werden, die im letzten Jahr sogar bombardiert wurden. Aber auch hier fehlt eine Politik, die Kontrolle mit Respekt für Menschenwürde verbindet. Wer fordert, die EU müsse zur Seenotrettungspolitik von 2016 zurückgehen, als 181.000 Menschen über das Meer nach Italien kamen und 4.600 ertranken, verliert. Im letzten Jahr kamen nur 12.000 nach Italien und es ertranken weniger als 800. Wenn Wähler in Europa die Wahl haben zwischen der Situation 2016 und der 2019, würden Mehrheiten 2019 wählen. Da kamen weniger, und es ertranken weniger.
Die sterben jetzt an Land.
Es kommen heute auch weniger Westafrikaner nach Libyen als zuvor. Doch die ernste Frage müsste sein: wie erreicht man das, ohne sich auf Milizen zu stützen oder die Seenotrettung zu behindern? Solange die einzigen verständlichen Vorschläge, wie man irreguläre Migration reduzieren kann, von Orbán oder Salvini kommen, werden die die Debatte am Ende immer gewinnen.
Haben Sie eine Gegenstrategie?
Ja. Eine Politik aus drei Säulen für das ganze Mittelmeer, von Gibraltar bis Lesbos: schnelle, faire Verfahren, durch echte Kooperation nationaler Asylbehörden. Menschenrechtskonforme Abkommen mit Transit- und Herkunftsländern, um jene, die keinen Schutz in der EU brauchen, schnell zurückzuschicken. Und Ländern dafür etwas Ernsthaftes anbieten: Tunesien etwa Visafreiheit für Touristen, wie schon der Ukraine. Und drittens: Mobilisierung von Koalitionen, um Flüchtlingen in Not überall in Drittstaaten so zu helfen, wie es die EU heute in der Türkei tut. Und nicht so, wie wir es heute wieder in den Nachbarstaaten Venezuelas sehen, wo zu viele warten, bis die Lage auch dort unerträglich wird. Und dazu ein Fokus auf Erfolge. Keine abstrakten Debatten.
Wir müssen beweisen, wie das, was wir vorschlagen, auf Lesbos oder mit einem westafrikanischen Land, tatsächlich funktionieren kann. Ich rede derzeit ununterbrochen mit Behörden in Gambia und in Deutschland über ein mögliches Pilotprojekt mit Gambia. Man bietet denen, die heute schon da sind, eine Chance zur Ausbildung und Arbeit. Gambia nimmt dafür sofort alle Straftäter und auch jeden, der ab diesem Stichtag nach Deutschland kommt, zurück. Und Deutschland bietet mehr Stipendien und legal Mobilität. Und wir stoppen so irreguläre Migration und das Sterben in Libyen und am Meer.
Hat Viktor Orbán mit seinem Kurs nicht längst gewonnen?
Orbán ist unglaublich gut darin, Widersprüche bei anderen aufzuzeigen. Er weiß, dass die Aufstockung von Frontex irreguläre Migration nicht reduzieren wird. Dass es keine Zustimmung zur Verteilung Asylsuchender in der EU geben wird. Dass Seenotrettung allein die Zahl der Toten nicht reduziert.
Doch was schlägt er vor? Da wird es düster. Er will Migranten und Flüchtlingen den Krieg erklären. Er redet von einer Invasion, vom Kampf, von der Notwendigkeit, das Zeitalter der Menschenrechte zu beenden. Er beschreibt Muslime, auch wenn sie legal in London, Paris oder Berlin leben, als Feinde Europas. Seine langen Reden sind an Radikalität nicht zu übertreffen, es gibt keinen Unterschied zur Weltanschauung von Bernd Höcke oder einem Identitären. Orban ist der erste identitäre Regierungschef in der EU. Und wartet auf die nächste Krise als Chance.
Einer seiner Lieblingsgegner ist der Finanzinvestor und Sponsor von Nichtregierungsorganisationen, George Soros.
Ich vermute, dass selbst viele, die Orbán kritisch sehen, seine Reden der letzten Jahre nicht gelesen haben. Da sagt er offen: Es geht um den Austausch der Bevölkerung, Eliten in Brüssel treiben das voran, um Staaten zu zerstören, und ein Spekulant aus den USA, getrieben von Profitgier und weil er Christen hasst, zieht die Fäden. Natürlich weiß Orbán, dass dies gefährlicher Unsinn ist. Orbán weiß auch, dass EVP Politiker wie Juncker, Donald Tusk und Manfred Weber nicht daran arbeiten, Europa zu zerstören. Doch er ist skrupellos. Und gefährlich.
Soros unterstützt auch ihre ESI.
Wir sind ein deutscher Verein mit einem Jahresbudget von nur 700.000 Euro. Seit unserer Gründung 1999 sind wir unabhängig, nehmen auch keine Auftragsarbeit von Regierungen an. Die wichtigsten Geldgeber sind die Stiftung Mercator und Schweden, zehn Prozent kommen von der Soros-Stiftung für Forschung zum Europarat. Dort haben wir in den letzten Jahren den größten Korruptionsskandal seiner Geschichte aufgedeckt, die Kaviardiplomatie, wo gerade diese Woche auch gegen deutsche Politiker ermittelt wird. Unsere Arbeit zu Migration hat Soros nie unterstützt.
Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit Europa, was ist Ihre größte Sorge?
Dass eine Koalition illiberaler, strategisch vorgehender Politiker, sich vernetzt, Geschichten erzählt, den Leuten Angst macht und gleichzeitig in ihren eigenen Ländern hinter dieser Rhetorik Strukturen demokratischer Kontrolle und der Rechtsstaatlichkeit abbaut. Das sehen wir in Ungarn. Und heute noch dramatischer auch in Polen.
Liest man Ihre neuen Analysen, fürchten Sie in Polen weit dramatische Entwicklungen für die EU, als es der Brexit ist.
Wir steuern in Polen auf die schwerste Verfassungskrise in der Geschichte der EU zu. Diese Woche hat die Parlamentarische Versammlung des Europarats Polen unter Monitoring gesetzt. Zum ersten Mal in der Geschichte des Europarats ist damit ein EU-Land auf der gleichen Liste mit Russland, der Türkei, Aserbaidschan. Tatsächlich ist es dramatisch. Und die Regierung in Warschau bereitet sich auf einen Machtkampf vor, wo sie den Europäischen Gerichtshof, den Wächter der Rechtsstaatlichkeit in Europa, herausfordert und seine Urteile nicht mehr akzeptieren wird. Das wird in Kürze passieren und ganz Europa erschüttern.
Warum?
Die EU beruht darauf, dass wir Gerichtsurteile anderer Mitgliedsstaaten ohne nachzudenken anerkennen, dass es überall in der EU unabhängige Gerichten gibt. Wenn aber alles in den Händen eines Justizministers liegt, der die gesamte Justiz kontrolliert, dann gibt es keine unabhängige Justiz mehr. In dieser Situation müssen wir Rechtsstaatlichkeit als Grundprinzip energisch verteidigen.
Was kann Deutschland tun?
Deutschland braucht eine klare Vision, Europa zu schützen, nach außen und in Rechtsstaatlichkeit im Inneren. Im Gegenzug dazu müssen Polen und andere Länder Rechtsstaatlichkeit akzeptieren. Es ist auch merkwürdig, dass in den letzten Jahren das Nicht-EU-Mitglied Norwegen der größte Geldgeber zur Unterstützung der Zivilgesellschaft in Polen war.
Wird das angesichts der Krisen die wichtigste deutsche EU-Ratspräsidentschaft?
Die Aufgaben sind enorm: Migration, Aushöhlen der Rechtsstaatlichkeit, illiberale Feinde, die selbstbewusster sind als je zuvor. Heute wird kluge deutsche Führung dringender gebraucht als je zuvor. Allein geht das nicht, man braucht Verbündete. Und mehrheitsfähige Lösungen.