Streit über europäische Corona-Hilfen: EU will Subventionen an Rechtsstaatlichkeit koppeln
Ungarn, Polen und andere kassieren EU-Hilfen - und entfernen sich aber von europäischen Werten. Brüssel will dort ansetzen, wo es wehtut: beim Geld.
Im „Herzen der europäischen Demokratie“ wird Bundeskanzlerin Angela Merkel grundsätzlich: „Menschen- und Bürgerrechte sind das wertvollste Gut, das wir in Europa haben“, sagte Merkel vor kurzem in Brüssel. Jedes Land in Europa erinnere sich anders an seine Kämpfe für Freiheit und Rechtsstaat, „zugleich eint uns genau diese Errungenschaft der Grundrechte“.
Diese Gemeinsamkeit erodiert in manchen EU-Staaten wie Polen und Ungarn jedoch: Minderheiten werden angegriffen, das Recht auf Asyl eingeschränkt, Justiz und Pressefreiheit gestutzt. Verpassen Merkel und Co beim EU-Gipfel ab Donnerstag eine einmalige Chance, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen?
In den kommenden Tagen verhandeln die Staats- und Regierungschefs über Hunderte Milliarden Euro. Es geht um den geplanten Aufbauplan nach der Corona-Krise und den siebenjährigen EU-Haushaltsrahmen ab 2021. Erstmals könnte ein Instrument Teil des Haushalts werden, das die Auszahlung von EU-Geld an den Zustand des Rechtsstaats in den Empfängerländern koppelt. Unter den EU-Ländern ist das heftig umstritten - und könnte womöglich scheitern. „Ich bin hoch alarmiert“, sagt die SPD-Europaabgeordnete Katarina Barley. „Wenn jetzt kein wirksamer Mechanismus kommt, wäre das wirklich ein Drama.“
Vorschlag aus dem Jahr 2018
Vorgeschlagen hat die EU-Kommission den neuen Rechtsstaat-Mechanismus schon 2018. Hintergrund ist, dass Länder wie Polen und Ungarn zwar gerne EU-Subventionen in Milliardenhöhe kassieren - sich nach Ansicht von Kritikern aber immer weiter von den gemeinsamen Werten entfernen. Der Europäische Gerichtshof schritt schon mehrfach gegen beide Länder ein, zudem laufen politische Verfahren wegen der Verletzung von EU-Grundwerten, die allerdings kaum vorankommen. Barley sieht ähnliche Tendenzen in Bulgarien, der Slowakei oder in Kroatien.
Die EU-Kommission will deshalb dort ansetzen, wo es wehtut: beim Geld. Sie hat vorgeschlagen, dass sie künftig vorgibt, ob EU-Zahlungen an bestimmte Länder reduziert oder gestrichen werden. Aufgehalten werden könnten Kürzungen demnach nur mit einer sogenannten umgekehrten qualifizierten Mehrheit. 15 EU-Staaten mit 65 Prozent der EU-Bevölkerung müssten den Vorschlag der EU-Kommission ablehnen, andernfalls gilt er als beschlossen. Im EU-Parlament stößt der Vorschlag auf großes Wohlwollen. „Polen und Ungarn kriegt man nur durch die finanziellen Dinge“, sagt etwa Moritz Körner von der FDP.
Hohe Hürden
Doch die Verwässerung hat längst begonnen. Bereits im Februar - noch vor der heftigen Corona-Krise - schlug EU-Ratschef Charles Michel einen Kompromiss vor, der den Mechanismus zurechtstutzt. Demnach müssten die EU-Staaten Vorschlägen der EU-Kommission zur Kürzung von EU-Geld künftig mit qualifizierter Mehrheit zustimmen. Die Hürde wäre ungleich höher als im Kommissionsvorschlag. Vergangene Woche erneuerte Michel den Vorschlag - und machte ihn noch komplizierter. Zusätzlich soll es einen jährlichen Rechtsstaatdialog der EU-Staaten geben, an dem auch der Europäische Rechnungshof beteiligt sein soll.
„Damit würden wir sehenden Auges auf das nächste unwirksame Instrument zusteuern“, sagt Barley über den Michel-Vorschlag. Sie befürchtet zudem, dass die Bundesregierung zuletzt zwar wortreich den Rechtsstaat verteidigt hat, sich zwischen den Zeilen aber von einer konsequenten Position entfernt.
Merkel hat diesen Schritt mittlerweile nicht mehr nur zwischen den Zeilen, sondern öffentlich vollzogen. Noch im Februar betonte die Kanzlerin, der Kommissionsvorschlag zum Thema Rechtsstaat sei aus ihrer Sicht besser als der von Charles Michel. Am Dienstag ließ sie diese Position fallen: Sie hielte Michels Vorschlag „auch mit Blick auf die Rechtsstaatlichkeit für eine gute Grundlage“, sagte Merkel.
Theoretisch könnte das Europaparlament eine Einigung der EU-Staaten zwar blockieren. FDP-Mann Körner sieht die Parlamentarier jedoch in einer ungünstigen Position. Wegen des Rechtsstaats das komplette Corona-Aufbauprogramm zu blockieren, sei schwer vermittelbar.
Orban findet Vorschlag inakzeptabel
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Ist die Idee des neuen Rechtsstaat-Mechanismus nun also Geschichte, bevor sie Wirklichkeit wurde? Länder wie Ungarn versuchen alles, ihn so wirkungslos wie möglich zu machen. Viktor Orban wurde gerade erst vom ungarischen Parlament, in dem seine rechtsnationale Fidesz-Partei die Mehrheit hat, dazu aufgefordert, dem Wiederaufbauplan nur unter bestimmten Bedingungen zuzustimmen. Unter anderem heißt es: „Die Verknüpfung der Fonds mit politischen und ideologischen Bedingungen - unter dem Schlagwort „Rechtsstaatlichkeit“ - ist inakzeptabel.“
Hoffnungen rufen auf den „sparsamen Vier“
Orban und Co spielt in die Karten, dass sowohl Haushalt als auch Wiederaufbauplan einstimmig entschieden werden müssen. Und dass besonders hart vom Coronavirus getroffene Länder wie Italien und Spanien das Geld aus dem Aufbauplan dringend brauchen. Besonders optimistisch ist Barley folglich nicht. Hoffnung setzt sie nur in die selbsternannten „sparsamen Vier“.
Die Niederlande, Dänemark, Schweden und Österreich dringen auf einen möglichst kleinen EU-Haushalt und wollen, dass beim Corona-Aufbauplan weniger Geld als Zuschüsse an die Krisenstaaten in der EU fließt. Aus ihrer Zeit als Bundesjustizministerin wisse sie, wie wichtig den Niederlanden und Schweden, aber auch Dänemark das Thema Rechtsstaat sei, sagt Barley. „Beim Geld werden die Vier nicht mehr viel rausholen können, glaube ich. Aber ich habe die Hoffnung, dass sie die Fahne beim Rechtsstaat hoch halten werden.“ (Michel Winde,dpa)