Unabhängige Medien in Ungarn: Der Notstand der ungarischen Demokratie
Nur wenige unabhängige Medien haben dem politischen Druck standgehalten. Die letzten drohen in der Corona-Wirtschaftskrise zu sterben. Ein Gastbeitrag.
Agnes Urban ist Medienanalystin bei Mertek Media Monitor, einem unabhängigen Medien-Think Tank in Ungarn. Gabor Gyori ist Analyst beim unabhängigen ungarischen Think Tank Political Solutions.
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat seine vielfach kritisierten Sondervollmachten, die er sich in der Coronakrise aushändigen ließ, diese Woche zurückgegeben. Mit ihnen war das Parlament faktisch ausgeschaltet worden und der Premier konnte per Dekret regieren - ohne gesetzliche Befristung.
Indem das zu zwei Dritteln mit Anhängern der Regierungspartei Fidesz besetzte Parlament nun dem Wunsch der Regierung folgte, und das Gesetz aufhob, scheint Orbán alle Kritiker Lügen zu strafen, die ihm unterstellten, er wolle die Coronakrise zum weiteren Ausbau seiner Macht ausnutzen.
Doch auch wenn der Corona-Notstand jetzt formell beendet wurde, so dauert der Notstand des Rechtsstaats, der Demokratie und der unabhängigen Medien in Ungarn unverändert an.
Und insbesondere für die Medien wird die Situation immer bedrohlicher.
Lokaler Oppositionspolitiker in Handschellen abgeführt wegen "Facebook"-Eintrag
Das generelle und langfristige Ziel der Orbán-Regierung ist es, Informationen und Öffentlichkeit in Ungarn so weit wie möglich zu kontrollieren. Ein zentraler Baustein der Notstandsgesetze war die Verschärfung des Strafgesetzbuches, wonach bei der Verbreitung von „Falschnachrichten“ zu Corona Haftstrafen drohen.
Dies war keine leere Drohung, auch wenn die Regierung von der vollen Härte des Gesetzes keinen Gebrauch gemacht hat. Was eine falsche Nachricht ist, bestimmte die Regierung. So gab es mehrere Festnahmen und ein lokaler Oppositionspolitiker wurde spektakulär in Handschellen abgeführt, nachdem der Fidesz-Bürgermeister seiner Gemeinde ihn wegen eines kritischen Facebook-Eintrages „informell“ angezeigt hatte und die Polizei bat, gegen ihn vorzugehen. Sein Haus wurde durchsucht.
In mindestens zwei Fällen hatten die festgenommenen Personen eine kritische Meinung geäußert oder eine Nachricht zu Corona verbreitet. Auch wenn in diesen Fällen keine Anklage folgte, so war die Botschaft deutlich: Ob Journalist oder Normalbürger, man sollte in Ungarn gut darüber nachdenken, ob man die Politik der Regierung zur Bewältigung der Corona-Pandemie öffentlich kritisiert.
476 Medien kamen auf einen Schlag in Besitz einer regierungstreuen Stiftung
Die Verschärfung des Strafgesetzbuches im Hinblick auf Meinungsäußerung und Berichterstattung über die Coronakrise ist nun zwar aufgehoben, aber dies war nur ein Schritt in der Strategie, unabhängige und kritische Stimmen in Ungarn zum Schweigen zu bringen.
Als eine Folge dieser Politik ist im letzten Jahrzehnt die Medienkonzentration in Ungarn extrem angestiegen. Einige auserwählte regierungstreue Investoren haben zahllose Medienunternehmen von politisch unabhängigen und ausländischen Besitzern übernommen.
Zunächst wahrten diese wenigstens den Schein wirtschaftlicher Unabhängigkeit von der Regierung – doch als marktwirtschaftliche Investitionen, als die sie gefeiert wurden, dürften sie nicht gelten: Stellten die erworbenen Medien doch auf Regierungspropaganda um.
Doch selbst dieser formalen Unabhängigkeit setzte die Regierungspartei im Herbst 2018 ein Ende: Das Gros der regierungstreuen Medien wurde von den vermeintlich unabhängigen wirtschaftlichen Akteuren freiwillig an eine gemeinnützige Stiftung, die Mitteleuropäische Presse- und Medienstiftung (KESMA) abgetreten, die somit kurz nach ihrer Gründung auf einem Schlag in den Besitz von 476 Medien kam.
KESMA wird von einem regierungsfreundlichen Kuratorium kontrolliert, und wurde anfangs von einem ehemaligen Fidesz-Politiker geleitet. Diese nunmehr offen zur Schau gestellte Medienkonzentration wäre in einem demokratischen System unvorstellbar.
Ungarisches Medien- und Wettbewerbsrecht außer Kraft gesetzt
Dabei verstößt sie auch gegen das ungarische Mediengesetz sowie das Wettbewerbsrecht, die derartige Konzentrationen eigentlich ausschließen. Doch die Regierungsmehrheit im Parlament beschloss, der Regierung das Recht einzuräumen, von ihr als strategisch wichtig eingestufte Fusionen von den geltenden Auflagen zu entbinden.
Und davon machte die Regierung in diesem Falle Gebrauch. Ihrer Auffassung nach ist die Kontrolle einer Mehrheit der ungarischen Medien durch eine einzige, der Regierung absolut loyale Stiftung von strategischer Bedeutung für Ungarn.
Obwohl KESMA lediglich die ohnehin bestehende Regierungskontrolle über die Medien formalisiert, hebt sie die Dominanz der Fidesz-Regierung im Informationssektor noch deutlicher hervor. Seit der Übernahme und der politisch motivierten Schließung der einst größten überregionalen Tageszeitung in Ungarn, „Népszabadság“, durch einen Fidesz-treuen Geschäftsmann, spielen die verbliebenen überregionalen politischen Zeitungen, mit ihren kleinen Auflagen, nur noch eine untergeordnete Rolle in der ungarischen Medienlandschaft.
Regionale Tageszeitung hingegen verkaufen sich immer noch relativ gut, mit mehreren hunderttausend Exemplaren täglich, doch sie gehören nunmehr ausnahmslos zur KESMA.
Als die Deutsche Telekom das Nachrichtenportal "Origo" verkaufte, ging eine Bastion des Qualitätsjournalismus verloren
Die Stiftung ist gleichzeitig auch im Besitz des einzigen landesweit zu empfangenden privaten Radiosenders („Retro“) sowie eines der größten Nachrichtenportale („Origo“). Die Übernahme des früher unabhängigen Portals „Origo“ 2015 war ein besonders schmerzhafter Verlust für die unabhängige Berichterstattung in Ungarn, weil das Nachrichtenportal vor dem Verkauf durch seinen Vorbesitzer, die Deutsche Telekom, eine Bastion des Qualitätsjournalismus gewesen war.
Unterdessen gehen staatliche Werbeaufträge, die in Ungarn eine große Rolle in der Medienfinanzierung spielen, fast ausschließlich an regierungsfreundliche Medien oder solche, die auf kritische Berichterstattung verzichten. Selbst private Unternehmer berichten, dass sie nicht frei über die Platzierung ihrer Werbung entscheiden können, weil sie politischen Druck fürchten müssen.
Zu den regierungstreuen Medien zählen in Ungarn auch die vom Steuerzahler direkt und üppig finanzierten öffentlich-rechtlichen Medien. Diese werden in der Umgangssprache wie zur Zeit der sozialistischen Diktatur wieder als „staatliche Medien“ bezeichnet. Die skrupellose Propaganda in den regierungstreuen Medien kommt für viele Ungarn einer Zeitreise gleich, weil man derart manipulierende Berichterstattung zuletzt zu sowjetischen Zeiten erlebt hatte.
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Ein weiteres anschauliches Beispiel ist die Wochenzeitung „Figyelö“, die jetzt Teil des KESMA-Imperiums geworden ist. Die einst unabhängige und anspruchsvolle, vor allem für ihre wirtschaftliche Ausrichtung geschätzte Wochenzeitung hat sich seit ihrer Übernahme ganz besonders mit der Verunglimpfung der Opposition profiliert.
So veröffentlichte sie vor der Parlamentswahl 2018 eine Liste der sogenannten Soros-Söldner, also von Akteuren die angeblich von dem ungarisch-stämmigen US-Philanthropen George Soros finanziert werden, damit sie Ungarn zerstören. Diese Liste war ein willkürlich zusammengestelltes Sammelsurium von kritischen Nichtregierungsorganisationen, Intellektuellen und Wissenschaftlern, von denen manche längst verstorben waren.
Mit der Corona-Pandemie hat sich der Ton gegen unabhängige Journalisten noch verschärft
Die wenigen verbliebenen unabhängigen Redaktionen werden systematisch zermürbt, da sie andauernd im Kreuzfeuer der regierungstreuen Medien stehen. Sie werden als „Feinde“ und Produzenten von Fake News verunglimpft.
Doch mit der Corona-Pandemie hat sich der Ton gegenüber unabhängigen Journalisten noch einmal deutlich verschärft. In einem regierungstreuen Fernsehsender sagte eine in Regierungskreisen vernetzte Medienpersönlichkeit, dass sie „in so einer Krisensituation“ nur empfehlen könne, kritische Journalisten „in Haft zu nehmen“. Entgleisungen dieser Art sind weder die Ausnahme noch sieht man solche Kommentare überhaupt als Entgleisungen an.
Gleichzeitig ist es mangels jeglicher Transparenz seitens der Regierung für unabhängige Journalisten auch ohne die Hetze der Orbán-treuen Kollegen sehr schwer, an belastbare Informationen zu kommen. In Normalfall werden weder schriftliche noch mündliche Fragen von kritischen Journalisten beantwortet, Interviews gibt es für sie so gut wie nie.
Anfragen bei öffentlichen Institutionen im Rahmen des Informationsfreiheitsgesetzes spielen in Ungarn daher eine übergeordnete Rolle für unabhängige Journalisten, eben weil die Orbán-Regierung eine Art Informationsblockade gegen sie verhängt hat.
Doch in der Praxis müssen Journalisten oft erst vor Gericht ziehen, damit sie die angeforderten Daten bekommen. Und wenn sie nach langem juristischen Prozedere die gewünschte Information erhalten, dann kommt es schon mal vor, dass die Behörden den umfangreichen Datensatz in mühsamer Kleinarbeit in Bilder umgewandelt und derart verschlüsselt haben, dass man weder darin nach Stichworten suchen noch Faksimile abdrucken kann.
Die Informationspolitik der Regierung ist erfolgreich, wie die Wahlergebnisse in ländlichen Regionen zeigen
All das bleibt nicht ohne Folgen. Dass die Medien- und Informationspolitik der Regierung an ihren eigenen Zielen gemessen insgesamt ein Erfolg ist, hat sich im letzten Oktober bei den Gemeindewahlen gezeigt: Die Regierungspartei Fidesz hat ihren Vorsprung in vielen ländlichen Gemeinden ausgeweitet, während sie in vielen Großstädten, und vor allem auch in der Metropole Budapest, herbe Niederlagen einstecken musste.
Während sich die Einwohner kleiner ländlicher Gemeinden wesentlich mehr aus den von Fidesz dominierten klassischen Medien – Radio, Fernsehen und regionale Zeitungen – informieren, spielen die Onlinemedien, unter denen es mehr unabhängigen Redaktionen gibt, bei der Stadtbevölkerung eine weitaus größere Rolle.
Es ist schwer zu sagen, wie die demokratische Öffentlichkeit und die Rechtstaatlichkeit im weitesten Sinne in Ungarn wiederhergestellt werden könnten. Die einst unabhängigen Institutionen, denen es im Prinzip obliegt, die rechtsstaatliche Aufsicht über die Regierung auszuüben, hat die Regierungspartei im Laufe des letzten Jahrzehnts ausgehöhlt und politisch gefügig gemacht.
So sitzen zum Beispiel in der obersten ungarischen Medienbehörde, dem Medienrat, ausschließlich Delegierte der Regierungsparteien. Ähnlich sieht es beim Verfassungsgericht aus, in dem fast alle der 15 Richter von Fidesz und deren Satellitenpartei, der KDNP nominiert und ohne Zustimmung der Opposition gewählt wurden. Auch wenn der offizielle Notstand und die damit verbundenen Sondervollmachten jetzt beendet wurden, wirken sich die fehlenden rechtsstaatlichen Kontrollmechanismen weiter verheerend aus.
Wirtschaftliche Folgen der Pandemie könnten Todesstoß für unabhängige Medien sein
Zudem setzen die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie den verbliebenen unabhängigen Medien stark zu. Im Gegensatz zu den regierungstreuen Medien können sie weder auf staatliche Werbung oder Unterstützung zurückgreifen noch auf Oligarchenvermögen als Rettungsschirm hoffen.
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Mit der heranziehenden Wirtschaftskrise, in der wohl viele Bürger den Gürtel enger schnallen werden, geht es nicht nur um das Überleben einiger Medienorgane, sondern um die letzten Reste demokratischer Öffentlichkeit in Ungarn.
Wie viele der verbliebenen unabhängigen Medien jetzt der Öffentlichkeit verloren gehen, hängt davon ab, ob die ungarische Gesellschaft willens und fähig sein wird, sich für deren Überleben stark zu machen.
Es ist nicht damit getan, diese Medien zu konsumieren und mit ihnen sympathisieren. Die Medien brauchen konkrete finanzielle Unterstützung in Form von Abonnements oder Crowdfunding. Schon jetzt überleben viele Redaktionen nur, weil ihre Leser oder Hörer regelmäßig Geld spenden.
Internationale Unternehmen müssen auch in unabhängigen Medien werben
Die Verantwortung der Werbetreibenden ist in dieser Situation noch größer als zuvor. Die ungarischen Tochtergesellschaften der großen internationalen Unternehmen sind der Regierungspartei Fidesz weit weniger ausgeliefert als rein ungarische Unternehmen. Es wäre deshalb enorm wichtig, dass die in Ungarn aktiven internationalen Autohersteller, Telekommunikationsfirmen und andere Großunternehmen ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden und ihre Werbeausgaben mit Bedacht verteilen. Das wäre auch in ihrem wirtschaftlichen Eigeninteresse an rechtsstaatlichen Strukturen und unabhängigen Institutionen.
Die gesellschaftliche Verantwortung wiegt in dieser Situation ungleich schwerer als sonst. Ohne eine kritische Öffentlichkeit gibt es keine Demokratie und keinen Rechtsstaat, und ohne Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Ungarn gibt es kein gemeinsames Europa. Deshalb müssen die Medienkonsumenten und die Werbetreibenden gemeinsam mithelfen, die letzten Bastionen dieser Öffentlichkeit in Ungarn aufrechtzuerhalten.
Agnes Urban, Gabor Gyori