Einwanderungspolitik in der Europäischen Union: EU-Kommission hält Quoten für die Lösung
Großbritannien und die Osteuropäer wollen den Vorschlag für eine gerechtere Verteilung von Flüchtlingen in Europa zu Fall bringen. Die EU-Kommission will aber für ihre neue Einwanderungspolitik kämpfen. Die Bundesregierung lobt das Konzept
Nach den Bootsunglücken mit Tausenden Toten im Mittelmeer hat die EU-Kommission Vorschläge für eine Neuausrichtung der europäischen Flüchtlingspolitik beschlossen. Das Gremium habe bei seiner Sitzung ein Strategiepapier zur Einwanderung angenommen, sagte die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini am Mittwoch. Sie stellte gemeinsam mit dem EU-Vize-Kommissionspräsidenten Frans Timmermanns die Pläne vor.Deutschland soll nach einem Quotensystem der EU-Kommission die meisten Mittelmeer-Flüchtlinge aufnehmen. Die Bundesrepublik müsste demnach die Asylanträge von 18,42 Prozent der Bootsflüchtlinge bearbeiten. Nach
Deutschland sollen Frankreich (14,17 Prozent) und Italien (11,84 Prozent) die meisten Menschen aufnehmen. Diese Vorschläge werden nun in den EU-Staaten diskutiert.
Timmermanns sagte, es gehe nicht nur darum "menschliche Tragödien im Mittelmeer zu verhindern" sondern auch die legale Einwanderung besser zu regeln. Die EU werde deshalb mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR innerhalb von zwei Jahren 20.000 Menschen einen Neuanfang in der EU ermöglichen. Nach Deutschland werden demnach 3086 Menschen geschickt, nach Österreich 444. Dafür wolle die EU-Kommission 50 Millionen Euro zur Verfügung stellen. Mogherini bezeichnete den Kommissionsvorschlag als eine "umfassende Lösung für ein komplexes Problem". Ein Teil des Plans ist auch eine stärkere Bekämpfung der Schlepperbanden, die derzeit Tag für Tag Hunderte Menschen in nicht seetüchtigen Booten aufs Mittelmeer schicken. Mogherini hatte sich deshalb beim UN-Sicherheitsrat um ein Mandat bemüht, das es europäischen Einsatzkräften erlauben würde, beispielsweise Boote auf libyschem Boden zu zerstören. Aber Russland, das im UN-Sicherheitsrat ein Veto-Recht hat, will die Zerstörung von Schmuggler-Schiffen aber nicht mittragen. Nach den jüngsten Bootskatastrophen im Mittelmeer will die EU auch die Seerettung ausbauen: Die Kommission nahm am Mittwoch einen Haushaltsplan an, um das Budget der Grenzeinsätze „Triton “ und „Poseidon“ zu verdreifachen. Vor allem gegen den Quotenvorschlag gibt es in der EU aber große Vorbehalte. Deshalb hat die Kommission an die EU-Verträge erinnert, die es Großbritannien, Irland und Dänemark erlauben würden, sich dem Quotensystem nicht anzuschließen.
Lob und Tadel für die Migrationsstrategie
Der deutsche Innenminister Thomas de Maizière lobte den Kommissionsvorschlag. Mit Blick auf die skeptischen Länder sagte er am Mittwoch: „Alle Mitgliedstaaten tragen gemeinsame Verantwortung, Flüchtlinge aufzunehmen.“ Zugleich warnte er aber auch Asylbewerber, deren Anträge abgelehnt wurden: „Wer aber keinen berechtigen Grund für einen Asylantrag vorweisen kann, wird keine Aufenthaltsperspektive in Deutschland haben.“ Die Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), bedauerte den Widerstand einiger EU-Länder. „Die Antwort auf steigende Flüchtlingszahlen kann nicht sein, sich aus Angst vor einer Stärkung der Populisten einer gemeinsamen Asylpolitik zu entziehen. Europa darf sich vor populistischen Strömungen nicht wegducken“, fügte Özoguz hinzu.
Mit großem Pomp hat David Cameron auf dem letzten EU-Gipfel vor seiner Wiederwahl britische Hilfe versprochen. Bei dem Krisentreffen, da kurz zuvor mehr als 1000 Bootsflüchtlinge im Mittelmeer ertrunken waren, kündigte der Premier die Entsendung des Marine-Flaggschiffs HMS Bulwark, dreier Hubschrauber und zweier Patrouillenboote an. Cameron nannte jedoch eine Bedingung, um die im britischen Wahlkampf tobende Einwanderungsdebatte nicht noch weiter anzuheizen: „Die Flüchtlinge, die wir aufpicken, dürfen aber nicht in Großbritannien Asyl beantragen können. Wir werden sie in den nächstliegenden Hafen bringen vermutlich in Italien.“
Es war die präventive Absage an einen Vorschlag, der nun aus Brüssel kommt. Nach dem Vorschlag der EU-Kommission müsste Großbritannien statt wie 2014 etwa 30 000 Flüchtlinge im Jahr etwa doppelt so viele aufnehmen. Auch Camerons neue Regierung hat kein Interesse daran. „Wir werden uns gegen jeden Vorschlag der EU-Kommission stellen“, kündigte ein Sprecher des Londoner Innenministeriums jetzt an, „der eine verpflichtende Quote einführt.“ Seine Chefin Therea May schrieb am Mittwoch in der britischen Tageszeitung "Times", die EU solle sich darum bemühen, „sichere Landeplätze in Nordafrika zu schaffen, unterstützt durch ein aktives Rückführungsprogramm“.
Schweden nimmt die meisten Asylbewerber auf
Dabei ist die ungleiche Verteilung offenkundig: Von den 626 000 Menschen, die vergangenes Jahr Asyl in der EU beantragten, nahmen Deutschland mit 202 000 und Schweden mit 81 000 fast die Hälfte auf. Zu den großen Aufnahmeländern zählen auch Frankreich, Ungarn und Italien. Zusammen bearbeiteten die fünf Länder drei Viertel aller Asylanträge, während Portugal lediglich 445 Antragsteller verzeichnete, Estland gerade einmal 145.
Auf die Größe gerechnet hat Schweden mit mehr als acht Asylbewerbern pro 1000 Einwohner am meisten Flüchtlingen Unterschlupf gewährt, gefolgt von Ungarn mit mehr als vier. In Deutschland waren es statistisch gesehen 2,5 Asylantragsteller, in Großbritannien nur 0,5 und somit fünf Mal weniger. Seit Monaten werben Bund und Länder daher für eine Quote, um die zumindest mehrheitlich verbreitete Akzeptanz der Flüchtlingsaufnahme nicht zu gefährden. Nun wurden sie von der EU-Kommission erhört.
Vom Krisenmechanismus zur Dauerlösung
Der Vorschlag, der dem Tagesspiegel vorliegt, umfasst mehrere Schritte. Zuerst will die Brüsseler Behörde noch im Mai einen Krisenmechanismus aktivieren, der zwar in Artikel 78 der EU-Verträge vorgesehen ist, aber noch nie zur Anwendung kam. Er erlaubt „vorläufige“ Notfallmaßnahmen, wenn sich „ein oder mehrere Mitgliedstaaten aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage“ befinden. Das wäre in diesem Fall Italien, wo die mit Abstand meisten Flüchtlinge ankommen.
Nach dem sogenannten Dublin-System, das vorsieht, den Antrag eines Asylbewerbers dort zu bearbeiten, wo er zuerst europäischen Boden betreten hat, hätten sie in der Theorie fast alle in Italien bleiben müssen. In der Praxis jedoch ist die Regierung in Rom überfordert und toleriert stillschweigend, dass die Flüchtlinge in den EU-Staat ihrer Wahl weiter reisen – häufig Deutschland. Nun sollen als Ad-hoc-Maßnahme die bereits angekommen Flüchtlinge verteilt werden. Der Fachbegriff heißt „Relocation“.
Eine Dauerlösung will die EU-Kommission im zweiten Schritt daraus machen. Bis Jahresende soll ein Gesetzesvorschlag auf dem Tisch liegen, der „die Anstrengungen einzelner Mitgliedstaaten auf freiwilliger Basis berücksichtigt. Die CSU-Europaabgeordnete Monika Hohlmeier begrüßt das: „Das Dublin-Verfahren hat sich nur als tauglich für Friedenszeiten erwiesen“, so die migrationspolitische Sprecherin der christdemokratischen Fraktion. Sie fordert jedoch, dass die neue Quote „nicht vom ersten Flüchtling an greift, sondern erst wenn ein Land bereits ein noch zu bezifferndes Kontingent aufgenommen hat“.
Umsiedlung nach Europa
Der Brüsseler Vorschlag geht über die Neuverteilung bereits in Europa befindlicher Flüchtlinge hinaus, geht es doch auch darum, ihnen die so oft tödliche Fahrt über das Mittelmeer zu ersparen. Bis zu 20 000 als schutzbedürftig anerkannte Menschen aus den Krisengebieten Afrikas und in Nahost sollen in einem Umsiedlungsprogramm nach Europa geholt werden – so hat es das UN-Flüchtlingshilfswerk als Minimum gefordert. Wieder käme die Quote zur Anwendung, die sich an den "Königsteiner Schlüssel" anlehnt, der in Deutschland die Verteilung zwischen den Bundesländern regelt.
Für 2016 erwägt die Behörde von Jean-Claude Juncker wiederum, daraus eine Dauereinrichtung zumachen. Es sollen auch mehrere EU-Informationszentren in Afrika aufgebaut werden, um Migranten die wenigen, aber oft unbekannten legalen Wege als Alternative zu den Schleppern aufzuzeigen – zum Beispiel als Student, Auszubildender oder Inhaber eines humanitären Visums. „Wir müssen die Türe ein wenig öffnen“, hatte er kürzlich gesagt, „damit die Menschen nicht durch die Fenster einsteigen müssen.“
Die Betonung freilich lag auf „ein wenig“. Denn neben sicherem Geleit für Asylbewerber als legalem Einreiseweg nach Europa ist von zusätzlicher Arbeitszuwanderung kaum die Rede. Es wird nur daran gedacht, die sogenannte Blue Card für hochqualifizierte Einwanderer – von denen bisher nur 16 000 ausgestellt wurden, davon allein 13 000 in Deutschland – auf Einzelpersonen auszudehnen, die in Europa investieren wollen.
"Wir brauchen Zuwanderung über alle Qualifikationsstufen hinweg"
„Die Pläne könnten ambitionierter sein, etwa in Bezug auf die EU-Saisonarbeiterrichtlinie, weil wir Zuwanderung über alle Qualifikationsstufen hinweg brauchen“, sagt die SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel, „aber ich bin froh, dass die Kommission angesichts der Widerstände in den Mitgliedstaaten überhaupt eine Debatte über legale Einwanderungswege angestoßen hat.“ Sie hätte es auch gern gesehen, dass geprüft würde, ob es für abgelehnte Asylbewerber Arbeit gibt, „statt sie sofort abzuschieben oder in die Illegalität zu schicken“.
Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD), sprach sich ebenfalls für eine gerechte Verteilung von Flüchtlingen auf alle EU-Mitgliedsstaaten ausgesprochen. Europa brauche ein faires Quotensystem, sagte der SPD-Politiker am Mittwoch im Deutschlandfunk. Wenn 500 000 Flüchtlinge unter 507 Millionen Europäern verteilt würden, sei das für alle machbar. Der Egoismus einzelner Staaten verhindere seit 20 Jahren eine effektive und humane Lösung der Probleme, kritisierte Schulz. Das passe nicht zusammen mit der viel beschworenen Wertegemeinschaft EU. „Wer legal nach Europa einwandern will, begeht kein Verbrechen“, fügte Schulz hinzu.
Tatsächlich kommt der Widerstand gegen großzügigere Regelungen nicht nur aus London, sondern vor allem aus Osteuropa. Nicht nur die Regierung in Polen steht diesbezüglich unter dem Druck von Rechtspopulisten. Die langfristigen Ideen der Kommission für eine gemeinsame europäische Küstenwache oder auch in der Praxis einheitliche Asylanerkennungsgründe dürften dort erst recht auf Missfallen stoßen. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban nannte verbindliche Quoten im Vorfeld "verrückt". „Das Kommissionspapier reflektiert die Situation in den Mitgliedstaaten“, sagt die CSU-Frau Monika Hohlmeier, „es hat ja auch keinen Sinn, etwas vorzuschlagen, dass hundertprozentig abgelehnt wird.“ So gibt es zumindest die theoretische Möglichkeit, dass David Cameron überstimmt wird. mit dpa/KNA
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