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Tausende Flüchtlinge versuchen derzeit über das Mittelmeer nach Europa zu kommen.
© aFoto:Igo

Flüchtlingspolitik der EU: Zynisch, gefährlich und kurzsichtig

Noch kann die Europäische Union die humanitäre Katastrophe an ihren Außengrenzen verhindern: Dazu muss sie aus der Geschichte lernen. Ein Gastbeitrag

Der Tod von mehr als 1.000 Migranten im Mittelmeer im Laufe weniger Tage ist eine Schande für die europäische Flüchtlingspolitik. Die Reaktion der EU aber ist zynisch, gefährlich und kurzsichtig. Anstatt Symptome zu bekämpfen muss in großem Maßstab gehandelt werden, um der anhaltenden Flüchtlingskrise gerecht zu werden.

Zunächst müssen wir verstehen, dass wir in Europa keineswegs Asyl- oder Flüchtlingszahlen sehen, die es politisch, ökonomisch oder historisch rechtfertigen würden, von einem Notstand zu sprechen. Aber wir erleben eine Flüchtlingstragödie an unseren Außengrenzen. Denn Europa befindet sich inmitten einer globalen Flüchtlingskrise.

Eine Million Flüchtlinge wurden aus Europa rausgeholt

Das Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR) spricht von weltweiten Flüchtlingszahlen, die so hoch sind wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Allein aus Syrien, das sich im fünften Jahr des Konflikts befindet, sind über drei Millionen Menschen geflohen, die auch in den Erstzufluchtsländern oft keinen Schutz mehr finden. Unter den Asylsuchenden die in Booten das Mittelmeer überqueren, sind Syrer zudem die größte Gruppe.

Die EU-Pläne der Migrationsverhinderung sind angesichts einer solchen Situation gänzlich fehlgeleitet. Nur wenn wir den Menschen eine realistische Perspektive bieten, werden sie das Russisch Roulette der Mittelmeerüberquerung nicht spielen müssen. Dabei zeigt ein Blick in die Geschichte des Flüchtlingsschutzes, dass es durchaus politische Lösungen für Flüchtlingssituationen wie die momentane gibt.

Als Europa nach dem Zweiten Weltkrieg ein Kontinent der Flüchtlinge war, gelang es der International Refugee Organisation (IRO) in nur vier Jahren, zwischen 1947 und 1951, eine Millionen Flüchtlinge aus Europa herauszuholen. Diese wurden in Ländern wie den USA, Australien, Kanada aber auch in Lateinamerika neu angesiedelt. Damit erhielten nicht nur viele Menschen eine neue Perspektive während europäische Staaten entlastet wurden, es wurde auch nachhaltig zum Wirtschaftsaufschwung in den Aufnahmeländern beigetragen.

Diese Politik des Resettlement wurde in den folgenden Jahrzehnten zu einem zentralen Instrument in Flüchtlingskrisen. Nach dem Ungarnaufstand 1956 wie auch nach dem Prager Frühling 1968 fanden geflohene Dissidenten in diversen westlichen Ländern Aufnahme. Die größte und erfolgreichste Resettlementaktion begann jedoch 1989 als Reaktion auf die anhaltende Flüchtlingskrise in Südostasien.

Tödliche Irrfahrten

Als die Flüchtlingsbewegungen nach dem Ende des Vietnamkrieges nicht aufhörten, entwarfen zunächst 17, schließlich 70 Staaten unter der Leitung des UNHCR den Comprehensive Plan of Action (CPA) mit dem vorwiegend vietnamesische Flüchtlinge in der gesamten Welt neu angesiedelt wurden. Bis 1997 fanden mit dem Programm über eine halbe Millionen Flüchtlinge ein neues Zuhause, insgesamt wurden gar über 1,3 Millionen Flüchtlinge aus der Region umgesiedelt. Auch in Deutschland wurden knapp 40.000 vietnamesische Flüchtlinge aufgenommen.

Der CPA war trotz einhergehender Probleme eine politische und diplomatische Glanzleistung und insbesondere ein großer humanitärer Erfolg. Er löste eine Flüchtlingskrise, die eine gesamte Region betraf, und rettete unzählige Menschenleben. Vorausgegangen waren dem CPA tödliche Irrfahrten von Flüchtlingsbooten über die Meere, Nachbarstaaten, die ihre Grenzen verschlossen, und Versuche, die Krise als ein Migrationsproblem zu behandeln. Die Bilder überfüllter Boote, tausendfache Tote und zunehmende Unsicherheit in der Region brachten die Welt zum Handeln, Flüchtlingen Schutz zu gewähren und Lösungen für andere Migranten zu finden.

Diese historischen Leistungen sollten wir uns angesichts der momentanen Mittelmeerkrise als Vorbild nehmen, um der aktuellen Situation gerecht zu werden. François Crépeau, der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für Migration, machte mit Bezug auf den CPA sogar ganz konkrete Vorschläge: Staaten weltweit, einschließlich Europas, sollten sich verpflichten, in den kommenden fünf Jahren eine Millionen Syrer aufzunehmen. Deutschland würde unter einem solchen Programm gerade mal 20 000 Flüchtlinge pro Jahr umsiedeln, eine Anzahl die keine besondere zusätzliche Belastung ausmachen würde.

Noch kann die EU die humanitäre Katastrophe aufhalten

Eine solche gemeinsame Verpflichtung zu einer umfassenden Lösung hätte den wichtigen Effekt, Syrern in Erstzufluchtsstaaten eine realistische Alternative zu Flüchtlingsbooten zu bieten und somit tatsächlich Leben zu retten und das Schmugglergeschäft zu unterminieren. Es würde auch den Ländern in der Region und den Transitstaaten Solidarität signalisieren und eine Integration von verbleibenden Flüchtlingen ermöglichen. Schließlich würden auch die Asylbewerberzahlen in Europa sinken und eine gleichmäßigere Verteilung der Flüchtlinge erreicht werden.

Crépeau geht noch weiter und schlägt die Aufnahme anderer Flüchtlinge wie Eritreer vor sowie das Erteilen von Arbeitsvisa für Zwangsmigranten, die keinen Flüchtlingsstatus erhalten würden. Solche Details könnten und müssten global und in Europa diskutiert werden, gerade auch unter Einbeziehung der Flüchtlingsforschung. In der Zwischenzeit muss ein echtes Rettungsprogramm im Mittelmeer die verfehlte europäische Flüchtlingspolitik flicken, bis ein umfassendes Programm steht, das in seiner Größe und mit politischer Stärke der Flüchtlingskrise unserer Generation gerecht werden kann.

Noch kann die EU die humanitäre Katastrophe an ihrer Außengrenze aufhalten und flüchtlingspolitisch Geschichte schreiben. Politiker müssen sich nur der historischen Tradition und Aufgabe des Flüchtlingsschutze in Zeiten der Krise bewusst werden und bereit seien, entsprechend zu handeln oder von zukünftigen Generationen für das heutige Versagen beurteilt zu werden.

Der Autor ist Research Fellow der Deutschen Forschungsgemeinschaft am Refugee Studies Centre des Department of International Development der University of Oxford.

http://fluechtlingsforschung.net/blog/

Olaf Kleist

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