Einmarsch der Türkei in Syrien: Erdogan wird keinen Kurdenstaat zulassen
Das breite Bündnis gegen den IS war ein Erfolg der Realpolitik. Nun wird der IS aus Nordsyrien vertrieben - und sofort bricht der Kurdenkonflikt neu auf. Ein Kommentar.
Man würde den Erfolg gerne feiern: Die mörderischen IS-Milizen verlieren in Nordsyrien an Boden. Die militärischen Etappensiege sind notwendig, haben aber eine dunkle Seite. Sie führen nicht zu Frieden. Sie bringen die alten Konflikte aus der Zeit vor dem Vormarsch des IS wieder auf die Landkarte, ganz voran den zwischen der Türkei und den Kurden.
Sie tragen sogar einen Spaltpilz mitten hinein in die Nato. Für die USA sind die Kurdenmilizen wichtige Verbündete im Kampf gegen den IS. Auch die Bundesregierung behandelte zumindest die Kurden im Irak als Alliierte und lieferte ihnen Waffen für den Kampf gegen den IS. Die Türkei sieht im Ringen der Kurden um den eigenen Staat hingegen eine Bedrohung für ihre Grenzen.
Es ist kein Zufall, dass die Türkei ihre Bodenoffensive in ein strategisch wichtiges Gebiet Nordsyriens wenige Stunden vor dem Besuch des US-Vizepräsidenten Joe Biden begann. Offiziell gilt der Angriff dem gemeinsamen Gegner IS. Tatsächlich ist es ein brachiales Signal an die USA, Europa und die Kurden: Bei unseren Kerninteressen machen wir keine Abstriche! Die Entstehung eines Kurdenstaats werden wir nicht dulden!
Die Landbrücke in Nordsyrien verhindern
Wäre es Präsident Erdogan allein um ein Signal der Stärke nach dem grausamen Terrorangriff auf eine Hochzeitsfeier in der südosttürkischen Stadt Gaziantep gegangen – er hatte dem IS die Schuld gegeben –, hätte er Luftangriffe befehlen können. Er setzte aber Panzertruppen in Marsch. Seine Soldaten bekämpfen bei dem Vorstoß nicht nur den IS in dessen regionaler Hochburg Dscharabulus, sondern auch die Kurdenmilizen, die ebenfalls auf das IS-Gebiet vordringen.
Die Kurden haben bereits den Großteil Nordostsyriens eingenommen und kontrollieren den äußersten Nordwestzipfel nördlich von Aleppo. Dazwischen liegt ein rund hundert Kilometer breiter Korridor, den bisher der IS beherrschte. Wenn die Kurden ihn erobern, haben sie das gesamte nordsyrische Grenzgebiet zur Türkei in ihrer Gewalt. Zusammen mit den im Osten angrenzenden Kurdengebieten im Irak wäre das eine gute Ausgangslage für einen Kurdenstaat.
Erdogan plant eine längere Besetzung
Bei aller Empörung über Erdogans brutale Methoden sollten seine Kritiker im Westen verstehen: Er kann nicht tatenlos zuschauen, wie sich die Landkarte verändert. Der Panzervorstoß ist wohl keine vorübergehende Operation, sondern zielt auf eine längere Besetzung syrischen Gebiets ab. Syrien und der Irak zerfallen. Angesichts der religiösen und ethnischen Konflikte zwischen ihren Bürgern lassen sie sich nicht wieder zu leidlich funktionierenden Staaten zusammenfügen. Ein Kurdenstaat aus ihrer Konkursmasse wäre aber auch kein stabiler Nachbar und würde den Ehrgeiz türkischer Kurden wecken, sich anzuschließen.
Etwas Verständnis für die schwierige Lage der Türkei ist angebracht. In dieser Nachbarschaft gibt es keine Zauberformel für Frieden. Erdogan ist freilich vorzuwerfen, dass er bereit war, eher mit dem Teufel zu paktieren – sprich: dem IS –, als sich konsequent um eine erträgliche Lösung für die Kurden zu bemühen, etwa durch kulturelle und regionale Autonomie. Er spielte die nationale Karte, gegen die Kurden. Mit seinem rücksichtslosen Auftreten verprellt er zudem selbst Nato-Partner, die Verständnis zeigen.
Ohne Autonomie für die Kurden keine Befriedung
Die Konzentration auf die Bekämpfung des IS war ein Triumph der Realpolitik. Sie nötigte die USA und Russland, Assad und die syrische Opposition, Türken und Kurden, ihre Rivalität zeitweise zurückzustellen. Der Sieg über den IS hilft aber nur, wenn es nun realistisch weitergeht.
Einen Kurdenstaat wird die Türkei nicht zulassen. Die Kurden haben jedoch Anspruch auf Anerkennung ihrer Identität und Schutz ihrer Kultur, erst recht nach ihrer zentralen Rolle im Kampf gegen den IS. Auch für Deutschland und Europa ist das neue Auflodern des Kurdenkonflikts eine Mahnung. Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten verdienen eine Zuflucht. Auch sie brauchen freilich eine Hoffnung auf Befriedung, damit die Konflikte, die sie mitbringen, nicht bei uns aufbrechen.