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Türkische Panzer am Donnerstag auf dem Weg zur syrischen Grenze.
© Bulent Kilic/AFP
Update

Einmarsch in Syrien: Der neue Krieg der Türkei weitet sich aus

Mit dem Einmarsch der Türkei in Syrien bekommt der Konflikt eine neue Dimension. Die bisher größte Offensive des Nato-Mitglieds richtet sich gegen den IS - und gegen die Kurden. Eine Analyse.

Schon mehr als fünf Jahre herrscht in Syrien Krieg. Hunderttausende sind der Auseinandersetzung zum Opfer gefallen, Millionen haben ihre Heimat verloren. Jetzt wird ein neues Kapitel dieses blutigen Konflikts aufgeschlagen. Am Mittwoch ist die türkische Armee im Nordosten Syriens mit Bodentruppen einmarschiert.

Einen Tag später weitete die Türkei ihre Miliärintervention aus. Bei Karkamis drangen am Donnerstag Soldaten mit schwerem Kriegsgerät nach Syrien vor. Die Streitkräfte setzten bei "Schutzschild Euphrat" genannten Einsatz in der Umgebung der Grenzstadt Dscharablus Kampfjets, Panzer und Artillerie ein. Kampfpanzer und Truppentransporter rollten über die Grenze. Die an der Seite der Türkei kämpfenden syrischen Rebellen hatten die Stadt am Westufer des Euphrats bereits am Mittwoch eingenommen. Verteidigungsminister Fikri Isik beanspruchte für die Türkei das "Recht", in Syrien nicht nur den IS, sondern auch kurdische Einheiten zu bekämpfen.

Warum greift die Türkei jetzt so massiv in den Syrienkrieg ein?

Es ist eine auf den ersten Blick widersprüchliche Situation: Die türkische Führung scheint nun militärisch zu erreichen, was sie seit vier, fünf Jahren immer wollte und von der internationalen Gemeinschaft forderte: die Schaffung einer Pufferzone an der syrischen Grenze; dafür hat sie allerdings ihre Syrienpolitik grundlegend ändern müssen.

Erst in den vergangenen Tagen hat Ankara diese Kehrtwende vollzogen. Jahrelang dämonisierten Staatschef Recep Tayyip Erdogan und seine Regierung den syrischen Präsidenten Baschar al Assad in der Hoffnung auf dessen schnellen Sturz. Jetzt erklärte Ministerpräsident Binali Yildirim, Assad könne im Amt bleiben, auch wenn er keine Zukunft habe.

Die Türkei ist somit auf einer Linie mit den USA und mit Russland. Erdogans Entschuldigung für den Abschuss eines russischen Kampfjets im November 2015 hat außerdem den Weg für militärische Operationen der Türkei in Syrien freigemacht. Ohne eine Normalisierung der Beziehungen zum Kreml wäre die türkische Armee dem Risiko ausgesetzt, von russischen Luftstreitkräften angegriffen zu werden.

Muss die Türkei nun noch mehr Terror im eigenen Land fürchten?

Als Auslöser der Bodenoffensive gilt der jüngste Anschlag auf eine Hochzeitsfeier in Gaziantep, einer türkischen Millionenstadt nahe der Grenze zu Syrien. 54 Menschen starben, die Hälfte von ihnen waren Kinder und Jugendliche. Die Tat trägt die Handschrift des IS. Damit wurde erneut offenkundig: Die Türkei hat ein immenses Terrorproblem und zwei Todfeinde – die PKK und den IS. Die militanten Kurden kämpfen seit Jahrzehnten für einen eigenen Staat – mit Waffengewalt. Mitglieder der Untergrundorganisation verüben immer wieder Attentate auf militärische und zivile Ziele.

Vor gut einem Jahr haben auch die Dschihadisten des IS dem türkischen Staat den Krieg erklärt. Der Grund: Nach einem Anschlag im Grenzort Suruc, für den Ankara den IS verantwortlich machte, änderte Erdogan seinen Kurs gegenüber den Islamisten. Anfangs hatte er sie in ihrem Kampf gegen Assad unterstützt. Die Türkei galt sogar als Rückzugs- und Rekrutierungsgebiet für den IS. Suruc beendete diese stillschweigende, gleichwohl kaum zu leugnende Allianz. Seitdem geht Ankara entschiedener gegen die Islamisten-Miliz vor. Das hatten die USA und ihre Verbündeten auch immer wieder eingefordert.

Was bedeutet das für den Kurdenkonflikt?

Ankara versucht, den IS vom rund 100 Kilometer langen Grenzabschnitt zwischen Dscharabulus und Azaz zurückzudrängen und dort Milizen der Freien Syrischen Armee (FSA) zu platzieren. Damit will die Türkei verhindern, dass die Kurdenmiliz YPG und deren Partei PYD ihre Gebiete vereint und den Großteil der Grenze kontrolliert. Ein zusammenhängendes, selbstverwaltetes Kurdengebiet in Syrien sieht Ankara als Bedrohung. Es würde separatistische Neigungen im mehrheitlich kurdischen Südosten der Türkei nur anheizen.

In derselben Weise wird jedoch ein offener militärischer Konflikt zwischen der türkischen Armee und der PYD auch die Lage in den Kurdenstädten im Südosten weiter zuspitzen. Bereits der Krieg um die syrische Kurdenstadt Kobane im September 2014, als sich PYD und IS gegenüberstanden, war ein fatales Signal an die Kurden in der Türkei: Ankara entschied sich fürs Zusehen und ließ erst spät kurdische Verbände aus dem Nordirak als Hilfe über die Grenze einreisen. Seither feuert die türkische Armee direkt gegen Stellungen der Kurdenmiliz, ohne eine militärische Bedrohung geltend machen zu können.

Nach der Vertreibung des IS aus der Grenzstadt Dscharablus kündigte Ministerpräsident Binali Yildirim am Donnerstag in einem TV-Interview an, die Kurdenmiliz YPG über den Euphrat zurückdrängen zu wollen. „Bis das verwirklicht ist, werden unsere Operationen weitergehen.“ Die syrischen Kurden begannen nach unterschiedlichen Angaben ihrerseits mit einem Rückzug auf das Gebiet östlich der Euphrats. Die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu meldete, US-Außenminister John Kerry habe seinem türkischen Kollegen Mevlüt Cavusoglu in einem Telefongespräch am Donnerstag versichert, die Verlegung sei im Gange.

Welche Folgen hat die Offensive für das Verhältnis zwischen Washington und Ankara?

Die „Operation Schutzschild Euphrat“, wie sie die türkische Armee nennt, ist kein kompletter Alleingang. Die US-Armee ist eingebunden, sie liefert Luftunterstützung und Militärberater, wie ein amerikanischer Regierungsvertreter in der Delegation von Joe Biden angab. Der US-Vizepräsident kam am selben Tag nach Ankara, an dem die Offensive begann. Das wird ein Zufall gewesen sein. Der Besuch war Anfang August festgelegt worden, auch eine Militäroffensive braucht Vorbereitung.

Für die USA ist entscheidend, dass die Türkei den IS von der Grenze vertreibt. Zum „Mandat“ der türkisch-amerikanischen Militäroffensive gehört allerdings nicht, dass die Türkei auch gegen die Kurdenmiliz der PYD vorgehen soll. Denn sie ist der wichtigste militärische Partner der USA im Kampf gegen den IS. Erkennbar ist aber das Bemühen der USA, auf die Empfindlichkeiten Erdogans einzugehen und die Präsenz der PYD in den vom IS befreiten Gebieten weniger sichtbar zu machen. Denkbar ist, dass die PYD mit der Übernahme der nordsyrischen Stadt Hassaka diese Woche ein letztes „Geschenk“ erhielt und von nun an ihre Einflusszone in Syrien nicht mehr erweitern soll.

„Unsere Abmachung mit den USA lautet, dass sich die Kurden aus Manbidsch und der Region auf die Ostseite des Euphrats zurückziehen müssen“, führte Yildirim aus. „Das ist die Zusage, die Garantie, die uns die USA gegeben haben.“ Das westlich des Euphrats gelegene Manbidsch war erst kürzlich von einem Bündnis unter Führung syrischer Kurdenmilizen vom IS zurückerobert worden.

Erschwert das Vorgehen der Türkei eine mögliche Waffenruhe für Aleppo?

Die Menschen in der seit vier Jahren heftig umkämpften Großstadt Aleppo im Norden Syriens sehnen eine Feuerpause herbei. Das Regime und sein russischer Verbündeter haben vor einigen Tagen in Aussicht gestellt, die Angriffe für 48 Stunden pro Woche einzustellen. In der Zeit sollen die Menschen mit lebensnotwendigen Dingen wie Wasser und Lebensmitteln versorgt, Schwerverletzte womöglich außerhalb der Stadt medizinisch behandelt werden. Doch bisher gibt es lediglich die Ankündigung. Noch wird gebombt, gehungert und gestorben. Sicher scheint aber, dass es für die Hilfsorganisationen erneut schwieriger wird, die in der syrisch-türkischen Grenzregion zu Zehntausenden hausenden Flüchtlinge zu unterstützen. (mit dpa)

Die „Operation Schutzschild Euphrat“, wie sie die türkische Armee nennt, ist kein kompletter Alleingang.
Die „Operation Schutzschild Euphrat“, wie sie die türkische Armee nennt, ist kein kompletter Alleingang.
© dpa

Christian Böhme, Markus Bernath

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