zum Hauptinhalt
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan
© AFP/Florian Choblet

Erdogan und die gescheiterte Syrien-Politik der Türkei: Auch der Feind der Feinde ist ein Feind

Lange hat der türkische Präsident Erdogan die Terrormiliz "IS" gewähren lassen. Denn sie bekämpfte seine erklärten Feinde - Syriens Machthaber Assad und die Kurden. Das rächt sich jetzt. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Dr. Christian Böhme

Kobane! Wie kaum ein anderer Ort steht die nordsyrische Stadt für den – erfolgreichen – Widerstand gegen die Horden des "Islamischen Staates" (IS). Vier Monate hat es gedauert, bis die Kurden, massiv unterstützt durch Luftschläge der USA, den Ort Anfang des Jahres befreien konnten.

Heute gleicht Kobane einer Trümmerlandschaft voller Blindgänger und Sprengfallen. Von Alltag kann keine Rede sein. Das wollten türkische Jugendliche ändern. Doch ihr Plan, beim Wiederaufbau zu helfen, wurde mit Gewalt zunichtegemacht: Im Grenzort Suruc riss sie eine Bombe aus dem Leben. Ankara macht den IS für den Anschlag verantwortlich – und steht vor den Ruinen seiner verfehlten Syrien-Politik.

Denn jahrelang hat die Türkei das erbarmungslose Treiben der Dschihadisten ebenso geduldet wie deren Erstarken. Weitgehend unbehelligt konnten zum Beispiel die Islamisten in das Bürgerkriegsland und den Irak gelangen. Sympathisanten des IS aus aller Welt wählen bis heute gerne den Weg über das Nato-Mitglied, um sich als "Gotteskrieger" den Extremisten anzuschließen. Auch als die große Schlacht um Kobane tobte, sah das türkische Militär tatenlos zu.

Hinter der bewussten Nachlässigkeit steckte ein Kalkül, das sich nun als Katastrophe erweist: Wir lassen die Terrormiliz gewähren, weil sie unsere erklärten Feinde bekämpft – allen voran Syriens Machthaber Baschar al Assad und die nach einem eigenen Staat strebenden Kurden. Beide sind Staatschef Recep Tayyip Erdogan verhasst. So verhasst, dass der Präsident bislang zumindest die politischen Realitäten geflissentlich ignorierte, ja völlig falsch einschätzte. Ein Islamisten-Kalifat als Nachbar schien ihm weniger bedrohlich als ein eigenständiger Kurdenstaat.

Trauer und Verzweiflung: Vor allem Jugendlich sind beim Anschlag von Suruc getötet worden.
Trauer und Verzweiflung: Vor allem Jugendlich sind beim Anschlag von Suruc getötet worden.
© Bulent Kilic/AFP

So bewahrheitet sich für Erdogan und die Türkei mit dem Attentat von Suruc auf verhängnisvolle Weise Goethes Zauberlehrlings-Erkenntnis: Die ich rief, die Geister, werd’ ich nun nicht los. Denn die sunnitische Terrorarmee interessieren keine stillschweigenden Verabredungen oder Pseudo-Loyalitäten. Für die Extremisten zählt einzig und allein die Erweiterung ihres Machtbereichs. Und die Türkei sollte nach Lesart der militanten Islamisten zwingend zu ihrem Herrschaftsgebiet gehören. Daher tragen sie den Krieg auch dorthin.

Wird Ankara deshalb seinen bisherigen Kurs gegenüber dem "Islamischen Staat" grundlegend ändern, eine deutlich härte Gangart einlegen? Das ist möglich, weil inzwischen auch viele Türken ihrer Regierung Untätigkeit vorwerfen. Gegen eine politische Neuausrichtung spricht wiederum, dass Erdogan und seine Mitstreiter von ihrem kurdischen Feindbild Abschied nehmen müssten. Noch scheint das schwer vorstellbar.

Doch der bestialische Angriff auf Suruc, die Schwesterstadt von Kobane, könnte etwas in Bewegung bringen – wenn der Westen mit vereinten Kräften dabei hilft. Erdogan muss jetzt unmissverständlich klargemacht werden, dass er mit seiner Haltung gegenüber dem "Islamischen Staat" in einer gefährlichen Sackgasse steckt. Befreien kann er sich daraus nur durch einen Richtungswechsel. Gelingt ihm das, wäre die Türkei ein wichtiger Partner im Kampf gegen den IS. Denn dieser Feind eint.

Zur Startseite