Im Visier des Terrors: Wie kann Europa der Türkei gerecht werden?
Kein anderes demokratisches Land wird derzeit so oft und schwer vom Terror überzogen wie die Türkei. Sie trägt die Hauptlast der syrischen Flüchtlinge. Ein Kommentar.
Die Türkei-Korrespondentin der „New York Times“, Ceylan Yeginsu, hat vierzig der mehr als fünfzig Todesopfer des Anschlags auf eine Hochzeitsfeier in Gaziantep nach ihrem Alter geordnet. Die Reihe ist ein seltenes Beispiel dafür, dass auch bloße, nackte Zahlen Gefühle der Trauer und des Schreckens transportieren können. So liest sie sich: 4, 4, 7, 7, 9, 9, 10, 11, 11, 11, 11, 11, 11, 12, 12, 13, 13, 14, 14, 14, 14, 14, 14, 14, 15, 16, 21, 21, 22, 22, 23, 23, 26, 26, 28, 28, 30, 32, 35, 38.
Jede dieser Zahlen ist ein Mensch, der das Leben noch vor sich hatte und dem es geraubt wurde von Terroristen, die angeblich ihrerseits ein Kind für ihre Verbrechen missbrauchten, das ebenfalls sein Leben noch vor sich hatte. Wie nennt man ein solches Kind? Täteropfer? Opfertäter? Eine solche Tat zerstört begriffliche Beschreibungsversuche. Das Ringen um Worte endet im Scheitern.
Kein anderes demokratisches Land ist in den vergangenen Jahren so oft und so folgenschwer vom Terror überzogen worden wie die Türkei. Es befindet sich im Zangengriff zwischen der Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ und radikalen pro-kurdischen Separatisten. Das Land ist Mitglied der westlichen Verteidigungsallianz, im Osten grenzt es an den Iran, den Irak und Syrien. Es trägt die Hauptlast der syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge. Wer die großen Herausforderungen und die geostrategisch exponierte Lage der Türkei nicht bedenkt, macht es sich in seinem Urteil über viele Entwicklungen zu leicht. Ein allzu rascher Fingerzeig offenbart oft auch Unkenntnis.
Ankara überschätzte die Verwundbarkeit des Assad-Regimes
Ja, es wurden Fehler gemacht, darunter ein gravierender. Als der Arabische Frühling begann, witterte Recep Tayyip Erdogan die Chance, das AKP-Modell – diese spezielle Liaison aus Islam und Demokratie – exportieren zu können. Als der Anti-Despoten-Funke auf Syrien übersprang, unterstützte er die Anti-Assad-Kräfte. Dabei verlor Erdogan allerdings aus dem Blick, dass nach und nach die radikalen Gruppen dominierten. Ankara überschätzte die Verwundbarkeit des Assad-Regimes und unterschätzte die Gefahr islamistischer Militanz. Das sollte sich rächen.
Wie kann Deutschland, wie kann Europa der Erdogan-Türkei gerecht werden? Bisher herrscht die Ja-aber-Sichtweise mit kräftiger, teils aggressiver Betonung des „Aber“ vor: Die Niederschlagung des Putsch-Versuches war zwar notwendig, aber was seitdem geschah – von den Verhaftungswellen über die Zensur bis hin zu Ausreiseverboten für Wissenschaftler – ist unentschuldbar. Das ist zwar richtig, doch weit entfernt von einer Kritik, die nicht nur wohlfeil klingen will. Eines jedenfalls sollte stets bedacht werden: Im Kampf um eine befriedete Neuordnung der Region ist kaum etwas wichtiger als eine stabile Türkei.