Nur halb so viel Erdgas im Schwarzen Meer gefunden: Erdogan muss aus seinem Gas-Fund die Luft rauslassen
Erdogans „historische Freudenbotschaft“ über Erdgas im Schwarzen Meer fällt bescheidener aus als angekündigt. Sie war ein Versuch aus dem Umfragetief zu kommen.
Von einem historischen Tag war die Rede, von einem Wendepunkt für die Türkei: Zwei Tage lang hatten Präsident Recep Tayyip Erdogan und seine Regierung der türkischen Öffentlichkeit eine bahnbrechende Nachricht versprochen – doch als Erdogan die Neuigkeit am Freitag verkündete, fiel die „Freudenbotschaft“ bescheidener aus als erwartet.
In einer Fernsehrede gab Erdogan die Entdeckung von 320 Milliarden Kubikmetern Erdgas im Schwarzen Meer bekannt. Der größte Energiefund in der Geschichte der Türkei werde das Land unabhängig von Importen machen, sagte Erdogan.
Allerdings ist die gefundene Erdgasmenge nicht so bedeutend, dass die Türkei jetzt plötzlich zur Großmacht wird. Erdogan fachte zudem den Gasstreit im östlichen Mittelmeer weiter an: Die Türkei wolle dort die Suche nach Erdgas in umstrittenen Gewässern intensivieren, sagte er.
Entsprechend enttäuscht reagierten die Märkte auf Erdogans Rede. Sollte die Regierung gehofft haben, mit der Verkündung den seit Monaten anhaltenden Wertverfall der Lira gegenüber Dollar und Euro stoppen zu können, hat sie sich getäuscht. Der Kurs der Lira, der vor Erdogans Rede gestiegen war, gab nach der Fernsehansprache des Präsidenten deutlich nach.
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Das Erdgas wurde rund 180 Kilometer vor der türkischen Schwarzmeerküste vom türkischen Bohrschiff „Fatih“ – Eroberer – gefunden. Wahrscheinlich lagere in der Nähe noch mehr Erdgas unter dem Meeresboden, sagte Erdogan. Die Türkei werde unverzüglich mit den Arbeiten zur Ausbeutung des Rohstoffes beginnen.
Sein Land wolle künftig vom Energieimporteur zum -exporteur werden und sei international „in die erste Liga“ aufgestiegen, sagte der Präsident. Erdogans Schwiegersohn und Finanzminister Berat Albayrak sagte, ab sofort orientiere sich die Türkei nicht mehr an Ost oder West, sondern nur noch an sich selbst.
Das ist stark übertrieben. Vor Erdogans Rede hatten türkische Regierungsvertreter die Nachricht gestreut, die Erdgasreserven betrügen 800 Milliarden Kubikmeter und könnten den Energiebedarf des Landes für 20 Jahre decken. Die von Erdogan genannte Menge reicht nun aber nur für etwa acht Jahre.
Außerdem profitiert die Türkei nicht sofort, sondern muss zunächst einmal Geld in die Erschließung des Gasfeldes investieren. Erdogan kündigte an, das erste Gas solle zum 100. Gründungsjubiläum der Republik im Jahr 2023 fließen.
Bisher gibt die Türkei 35 Milliarden Euro für Energieimporte aus
Eine Selbstversorgung mit Erdgas könnte der Türkei viel Geld sparen: Pro Jahr gibt das Land bisher etwa 35 Milliarden Euro im Jahr für Energieimporte vor allem aus Russland und dem Iran aus. Weniger Importe würden dem Land dabei helfen, sein chronisches Zahlungsbilanzdefizit auszugleichen.
Kritiker verweisen darauf, dass die Entdeckung von Gasvorräten nicht mit sofortigem Reichtum gleichzusetzen ist. Die Corona-Pandemie hat die Preise für Erdgas abrutschen lassen, in Teilen des östlichen Mittelmeeres haben Energiekonzerne ihre Suche nach Gas deshalb bis zum nächsten Jahr ausgesetzt.
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Auch reicht die Menge des jetzt georteten Erdgases nicht dazu aus, die Türkei zu einem wichtigen Akteur auf dem internationalen Markt zu machen: Das größte Gasfeld im östlichen Mittelmeer, das ägyptische Zohr-Feld, ist mit rund 850 Milliarden Kubikmetern fast dreimal so groß wie das türkische Feld im Schwarzen Meer.
Gasgiganten wie Russland oder Iran erreichen mit Vorräten von jeweils mehr als 30 Billionen Kubikmetern noch ganz andere Dimensionen. „Der Berg kreißte und gebar eine Maus“, kommentierte der Wirtschaftsexperte Mustafa Sönmez die Erdogan-Rede auf Twitter.
Erdogans „Freudenbotschaft“ war ein Versuch, aus einem Umfragetief zu kommen. Viele Wähler schimpfen über den Währungsverfall und die hohe Arbeitslosigkeit. Für die nationalistische Wählerbasis gedacht waren auch Erdogans Bemerkungen über den Streit im östlichen Mittelmeer.