Die neue EU-Kommission: Eine Regierung für Europa
Am Mittwoch wollen die Abgeordneten des EU-Parlaments die neue Kommission von Jean-Claude Juncker bestätigen. Einige EU-Mitgliedstaaten hätten gerne einen Kommissionschef gehabt, der weniger dynamisch ist als Juncker. Der Luxemburger kommt in ein Amt, dem in den letzten Jahren immer mehr Handlungsmöglichkeiten zugewachsen sind. Ein Kommentar.
Nach einem turbulenten Europawahlkampf, gefolgt von heftigen Kontroversen um das Präsidentenamt sowie um die Verteilung der einzelnen Ressorts, nimmt die neue Europäische Kommission in Brüssel ihre Arbeit auf. An Herausforderungen herrscht für die Mannschaft um den früheren luxemburgischen Ministerpräsidenten Jean-Claude Juncker kein Mangel. Was ist von der neuen Kommission zu erwarten?
Jean-Claude Juncker tritt das wichtigste Amt an, das die Europäische Union zu vergeben hat: die Präsidentschaft der Europäischen Kommission. Damit steht er einer Organisation mit mehr als 40.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vor. Organisiert in etwa 40 Generaldirektionen und Diensten, wird diese Maschinerie von einem Kollegium von 27 Kommissaren und von ihm als Präsidenten geleitet. Die Kommission soll einerseits das europapolitische Tagesgeschäft führen und andererseits als „Motor der Integration“ konsensfähige Initiativen zur Verwirklichung der europäischen Einigung auf den Weg bringen. An die neue Kommission knüpfen sich viele Hoffnungen. Unklar ist aber, ob die neue Kommission über die Mittel verfügt, europäische Antworten auf die drängenden Probleme zu finden, geschweige denn entsprechende Maßnahmen durchzusetzen.
Im Rückblick stellt sich die Entwicklung der Europäischen Kommission als Erfolgsgeschichte dar. Zu Beginn waren ihre Aufgaben noch begrenzt. Doch das änderte sich rasch. Spätestens mit dem Programm zur Vollendung des Binnenmarktes Mitte der 1980er Jahre und dem Integrationssprung durch den Maastrichter Vertrag, der auch die Innen- und Justizpolitik sowie die Außen- und Sicherheitspolitik auf die europäische Agenda setzte, sind mittlerweile alle Bereiche moderner Staatstätigkeit – freilich in unterschiedlicher Intensität – zur Sache der Europäischen Union geworden.
Juncker ist nicht mehr "Erster unter Gleichen"
Der mit dieser Entwicklung einhergehende Kompetenzgewinn für die Union bedeutet konkret eine Erweiterung des Aufgabenspektrums der Kommission als der zentralen Exekutiven auf europäischer Ebene. Allerdings haben sich die Aufgabenschwerpunkte der Kommission im Laufe der Zeit von Planung und Politikinitiierung in Richtung Umsetzung und Kontrolle der Implementation gemeinsamer europäischer Vorhaben verschoben. Dieser Wandel hat auch die Kultur der Organisation verändert. Gleichzeitig wurde die Stellung des Präsidenten der Kommission innerhalb des Kollegiums der Kommissare gestärkt. Galt der Präsident früher als der „Erste unter Gleichen“, ist er mittlerweile durch weitreichende Kompetenzen der Vorgesetzte seiner Kolleginnen und Kollegen. Die Professionalisierung der Kommissionsverwaltung – allen voran die Effizienz des ihm direkt unterstellten Generalsekretariats – hat die Handlungsmöglichkeiten des Präsidenten zudem weiter vergrößert.
Die Kommission ist größer geworden - das stärkt den Chef
Faktisch ist seine Macht aber auch dadurch gewachsen, dass aus einem Gremium aus zwölf Kommissarinnen und Kommissaren eine Versammlung von 28 geworden ist. Denn die schiere Größe, die das Kollegium mittlerweile angenommen hat, erfordert vom Präsidenten und seinen engsten Beratern eine strikte Geschäftsführung, um die Effizienz der Entscheidungsfindung zu gewährleisten. Juncker differenziert die Rollen im Kollegium jetzt noch weiter aus. Neben der Hohen Beauftragen für die Außen- und Sicherheitspolitik, der Italienerin Federica Mogherini, die ohnehin schon gegenüber anderen Kommissaren exponiert ist, weil sie den Vorsitz im Rat der Außenminister innehat, gibt es nun einen „ersten“ Vize-Präsidenten als direkten Vertreter von Juncker. Diese Rolle wird Frans Timmermans übernehmen, der bisher niederländischer Außenminister war.
Daneben sollen weitere fünf Vize-Präsidenten die Arbeit der Kommission in den besonders wichtigen Bereichen Haushalt, Energie, Wettbewerbsfähigkeit, Euro und Digitalisierung kollegial koordinieren. Faktisch werden die Vize-Präsidenten den 20 „normalen“ Kommissarinnen und Kommissaren damit übergeordnet – ein Novum.
In der Kommission geht es künftig um Parteipolitik
Der deutsche Kommissar Günther Oettinger muss sich also bei Vorlagen an das Kollegium zuerst mit Andrus Ansip absprechen, dem bisherigen estnischen Ministerpräsidenten und neuen Vize-Präsidenten für den Bereich Digitalisierung. Oettinger wird zudem gut daran tun, neben den Vorstellungen Junckers auch die Position des neuen ersten Vize-Präsidenten zu berücksichtigen. Ob sich diese Hierarchisierung auszahlt, ist nicht ausgemacht. Aus der deutschen Perspektive mag man bedauern, dass Oettinger als ein altgedientes Mitglied der Kommission „nur“ einfacher Kommissar bleibt. Für das Kollegium, das bislang als Forum Gleichberechtigter konzipiert war, steckt darin aber erheblicher politischer Spaltstoff. Dabei ist auch zu bedenken, dass wohl keine Kommission zuvor mit derart vielen hochrangigen nationalen politischen Schwergewichten ausgestattet war. Das Vorgängerteam wurde noch als „Kollegium der Unbekannten“ verspottet. Denn man kannte das politische Personal international kaum, und viele der Kommissarinnen und Kommissare begegneten sich persönlich erstmals bei der konstituierenden Sitzung der Kommission. Das ist dieses Mal anders. Der Prestigegewinn, der mit dem Kommissarenamt verbunden ist, und die Spannungen um die Verteilung der Geschäftsbereiche in der neuen Kommission spiegeln letztendlich den Bedeutungszuwachs wider, den man der Institution mittlerweile beimisst.
Das Verfahren mit den "Spitzenkandidaten" hat Folgen
Juncker wird auch als erster Präsident der Europäischen Kommission auf ganz besondere Weise mit dem Europäischen Parlament verknüpft sein. Denn er ist als Kandidat der Europäischen Volkspartei für das Präsidentenamt in den Europawahlkampf gezogen. Sein Mandat leitet er aus dessen Wahlergebnis ab. Das Parlament hat mit der nirgendwo vorgesehenen Kür „europäischer Spitzenkandidaten“ die Einflussbalance im Auswahlprozess des Kommissionspräsidenten zu seinen Gunsten verschoben. Der Weg zur Parlamentarisierung und womöglich künftig sogar Parteipolitisierung der Kommission ist nun augenfällig und wohl unumkehrbar eingeschlagen. Gleichzeitig haben der Ministerrat und der Europäische Rat ihre Strukturen reformiert. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde ein eigener Präsident des Europäischen Rates eingesetzt. Dies hat die Konsensfindung unter den Staats- und Regierungschefs und damit die Koordinierungsrolle des Europäischen Rates verbessert. Die wechselnden Präsidentschaften in den Fachministerräten sind jetzt besser mit der Entscheidungsfindung im Kreis der Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat verzahnt und letzteren faktisch untergeordnet.
Juncker verdankt sein Amt einer „großen Koalition“
Einerseits wird also ein machtbewusstes Parlament Juncker falls nötig daran erinnern, dass er sein Amt in erster Linie der Standfestigkeit einer großen Koalition zwischen Europäischer Volkspartei und Sozialisten verdankt. Andererseits sind die Manövriermöglichkeiten der Kommission auch dadurch eingeschränkt, dass sich die kollektive Handlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten auf Seiten der Fachministerräte beziehungsweise des Europäischen Rates verbessert hat und die Bevölkerung in den Mitgliedstaaten gegenüber europäischen Initiativen ohnehin immer skeptischer wird.
Die Kommission hat eine umfassende Management-Reform hinter sich
Der Amtsantritt der neuen Kommission markiert mehr als einen Personalwechsel. Die Kommission hat im vergangenen Jahrzehnt ihren bürokratischen Apparat einer umfassenden Management-Reform unterzogen und auch ihr politisches Führungsgremium, das Kollegium, umgestaltet. Die Verwaltung und die politische Führung der Kommission haben neue – auf Unterordnung zielende – Koordinationsmechanismen erhalten.
Ob die Kommission im Sinne ihres neuen Präsidenten dadurch auch steuerbarer wird, muss sich zeigen. Viel wird davon abhängen, ob Juncker die Kommission in den nächsten Jahren proaktiv führen wird und neue Initiativen auf den Weg bringt. Oder ob er wie sein Vorgänger José Manuel Barroso das Hauptaugenmerk auf Konsolidierung des Erreichten legt und die Rolle der Kommission als neutraler Sachwalter in den Vordergrund rückt. Das Misstrauen, das Juncker im Vorfeld seiner Nominierung entgegenschlug, zeigt jedenfalls, dass einige Mitgliedstaaten eine politisch dynamische Kommission unter ihm befürchten. Nicht unterschätzen sollte man zudem, dass allein die Ausgestaltung der an die Kommission mittlerweile übertragenen Aufgaben – nicht zuletzt in den Bereichen der Haushaltsplanung und Staatsschuldenüberwachung – ihr politische Steuerungsmöglichkeiten ganz neuer Intensität eröffnet. Die Kommission wird daher auch ohne neue Integrationsinitiativen ihren Einfluss im Hinblick auf die Umsetzung europäischer Vorgaben ausdehnen können.
Die neue Rolle der Kommission widerspricht dem klassischen Verständnis
Die politische Balance zwischen Rat, Parlament und Kommission ist erkennbar in Bewegung geraten. Die direkt gewählten Parlamentarier auf der einen Seite und die national legitimierten Ratsmitglieder auf der anderen nehmen einen europapolitischen Führungsanspruch für sich in Anspruch und haben dafür entweder mittlerweile die notwendigen Kompetenzen erstritten oder ihre organisationalen Handlungsmöglichkeiten optimiert. Zudem hat das Konstrukt der Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten eine ganz neue Dynamik erzeugt, die letztendlich auf eine Parteipolitisierung der Kommission hinausläuft. Dies widerspricht vollends der für die Kommission ursprünglich angedachten Rolle eines neutralen politischen Unternehmers zur Verwirklichung der europäischen Einheit durch clevere Mobilisierung ökonomischer Eigeninteressen. Ob aber eine "Normalisierung" der Rolle der Kommission hin zu einer von einem Parlament abhängigen europäischen Regierung Sinn ergibt, steht auf einem anderen Blatt.
Keine Gewaltenteilung wie in Westminster
Insbesondere da in den beiden Kammern dieses gedachten Parlaments - also im Ministerrat als Vertretungsorgan der Gliedstaaten und im Europäischen Parlament als Volksvertretung - sowieso auf absehbare Zeit permanente "große Koalitionen" herrschen werden und die EU Institutionen ohnehin konstitutionell auf eine Gewaltenverschränkung geeicht sind, was die Verwirklichung des klassischen Gewaltenteilungsprinzips wie in Westminister oder in den USA auf europäischer Ebene faktisch ausschließt. Die spannende Frage der nächsten Jahre ist daher, wie Juncker wohl die vorhandenen Handlungsmöglichkeiten der Kommission nutzen wird. Das institutionelle Machtdreieck der EU hat sein politisches Gleichgewicht jedenfalls noch lange nicht gefunden.
Der Autor Michael W. Bauer ist Jean Monnet Professor der Europäischen Union. Seine wissenschaftliche Laufbahn führte den Südhessen über das Studium der Sozialwissenschaften in Mannheim, Frankfurt am Main, Wien, der Humboldt-Universität zu Berlin, dem Europakolleg Brügge zur Promotion am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz und als Postdoktorand zur Max-Planck-Gesellschaft in Bonn. Nach der Habilitation an der Universität Konstanz und einigen Jahren auf einer Professur an der Humboldt-Universität zu Berlin hat er seit 2012 den Lehrstuhl für vergleichende Verwaltungswissenschaft und Policy-Analyse an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer inne.