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Wohin soll ich gehen? Ein Migrant nach seiner Ankunft im spanischen Malaga.
© John Nazca/Reuters

UN-Migrationspakt: "Ein Meilenstein in der Geschichte der Diplomatie"

Peter Maurer, Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, über die Bedeutung des Migrationspakts, anstrengende Verhandlungen und sinnvolle Regeln.

Herr Maurer, in Marrakesch soll jetzt der UN-Migrationspakt unterzeichnet werden. Ein historischer Durchbruch, wie die Bundesregierung sagt?

Der Pakt ist ein Meilenstein in der Geschichte der Diplomatie. Das Dokument zeigt, dass sich die internationale Gemeinschaft auch bei kontroversen Themen auf gewisse Leitlinien einigen kann. In Zeiten, in denen ein weltweiter Konsens immer schwieriger wird, ist das ein großer Erfolg.

Als Diplomat kennen Sie das Innenleben der UN gut. Wie muss man sich die Verhandlungen zum Migrationspakt vorstellen?

Das war ein komplexer Prozess über mehrere Jahre. Zunächst haben sich die verschiedenen Staaten auf informeller Ebene getroffen, dann folgten regionale Konferenzen, später Gespräche auf globaler Ebene. Insgesamt haben die formellen Verhandlungen zwei Jahre gedauert, eine ziemliche Anstrengung. Da war eine enorme Anzahl an Diplomaten beteiligt. Man kann davon ausgehen, dass seit 2015 in jedem Land drei bis vier Ministerien mit dem Pakt beschäftigt waren.

Warum hat man die ganze Zeit davon nichts mitbekommen?

Es lag sicherlich nicht an der mangelnden Transparenz. Alles an diesem Prozess war öffentlich. Nach jeder Verhandlungsrunde gab es Pressekonferenzen. Über jede Sitzung wurden lange Protokolle veröffentlicht. Auf den nationalen Bühnen ist das Thema allerdings erst aufgekommen, als Rechtspopulisten anfingen, dagegen mobil zu machen.

War es ein Fehler der Bundesregierung, die deutsche Öffentlichkeit nicht früher zu informieren?

Das glaube ich nicht. Ich kenne das aus meiner Erfahrung als Diplomat. Sie können 100 Pressekonferenzen abhalten, da kommt niemand, solange es kein Thema ist. Es ist aber schon merkwürdig, dass der Pakt plötzlich zum politischen Zankapfel geworden ist, nachdem sich mehr als 190 Staaten darauf geeinigt hatten. Eine Lehre für die Politik sollte sein, dass sie bei kontroversen Themen im eigenen Land früh den Konsens suchen muss. Die Diskussion um den Migrationspakt ist ein Weckruf für politische Parteien, etwas aufmerksamer zu sein. 

Die Kritiker des Pakts sagen, er verschweige die negativen Aspekte der Migration. Stimmt das?

Nein, ganz im Gegenteil. Sie müssen nur in den Text des Dokuments schauen. Wenn man möchte, dann findet man die entsprechenden Formulierungen.

Zum Beispiel?

Nehmen Sie das Thema der Abschiebungen. Das ist ja ein zentrales Anliegen der Industrieländer. In dem Pakt steht, dass illegal eingereiste Migranten in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden sollen – und diese sich verpflichten, ihre Staatsbürger wieder aufzunehmen. Auch der Menschenhandel wird angesprochen, das ist ja auch ein problematisches Thema.

Der Pakt zeichnet also kein ein rosiges Bild von Migration?

Nein, überhaupt nicht. Das Ziel ist allerdings, Sachlichkeit in die Debatte um Migration zu bringen. Seit Jahrzehnten stellt die Forschung fest, dass die Vorteile der internationalen Migration eindeutig überwiegen, für alle Beteiligten. Da sind die Rückflüsse von Geldern in die Herkunftsländer der Migranten, aber auch gesteigerte Innovationsfähigkeit oder die Stärkung der Sozialsysteme in den Aufnahmeländern. Der Großteil der weltweiten Migration ist problemlos, etwa innerhalb der EU- oder OECD-Staaten. Im subjektiven Empfinden vieler Menschen aber wird die Migration als etwas Negatives gesehen, als Gefährdung der eigenen Identität. Der Pakt ist auch dafür da, eine Balance zwischen diesen beiden Positionen zu finden.

Deshalb verpflichten sich die Unterzeichner-Staaten, mehr Informationen über Migrationsströme zu sammeln?

Genau. Der Pakt soll den Regierungen helfen, das Thema Migration richtig einordnen zu können. Mit welchen Größenordnungen haben wir es zu tun? Was sind die wirtschaftlichen Folgen der Migration? In dem Pakt geht es darum, die Staaten beim Management der Migration zu unterstützen. So muss man den Text verstehen.

Peter Maurer (62) ist seit 2012 Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK).
Peter Maurer (62) ist seit 2012 Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK).
© Thilo Rückeis

Der Pakt ist aber rechtlich nicht bindend. Also nur eine Absichtserklärung?

Nein, er wird seine Wirkung entfalten, weil er internationale Standards setzt, auch als Vergleichswert für nationale Gesetzgebungen. Der Migrationspakt hat zwar keine unmittelbare rechtliche Kraft, aber eine politische Bedeutung. Wer in Zukunft nationale Migrationsgesetze macht, wird immer auch den UN-Migrationspakt im Blick behalten müssen. Der Vertrag kann also eine Argumentationshilfe sein.

Was meinen Sie?

Wir setzen uns zum Beispiel seit Jahren dafür ein, dass Migrantenkinder nicht in Haftanstalten kommen. Das steht auch in dem Pakt. In manchen Ländern kommen unbegleitete minderjährige Migranten aber immer noch hinter Gitter, weil es die einheimische Rechtslage zulässt. Wer die Haft aber abschaffen will, kann sich in Zukunft auf den Migrationspakt berufen. Wir als humanitäre Organisation werden die Unterzeichnerstaaten beim Wort nehmen – und darauf pochen, dass sie die Regeln des Vertrags umsetzen. Deshalb braucht das Rote Kreuz den Migrationspakt. Es gibt eine Reihe an Themen, die heute in dem Pakt stehen, weil die Rot-Kreuz-Bewegung darauf gedrängt hat.

Welche Themen sind das?

Alles, was zur Rettung von Menschenleben auf den Migrationsrouten drin steht, stammt von uns. Auch, dass die Suche nach vermissten Migranten ausgebaut wird, ist unsere Forderung. Genauso, dass verboten wird, minderjährige Migranten zu inhaftieren oder Familien an der Grenze zu trennen

Wie wird der Migrationspakt die Arbeit des Roten Kreuzes verändern?

Nehmen wir das Thema Gesundheitsversorgung. Die soll laut UN-Pakt nicht mehr abhängig sein vom rechtlichen Status der Migranten, sondern sich nach ihrer Bedürftigkeit richten. Für die Rot-Kreuz-Bewegung ist das ein zentrales Anliegen, weil wir in vielen Ländern ärztliche Leistungen anbieten. Wir erwarten, dass der Migrationspakt unsere Arbeit in diesem Bereich erleichtert – auch was die Eindämmung von Krankheiten angeht.

Warum?

Heute ist es in vielen Ländern noch so, dass Migranten ohne Aufenthaltspapiere es nicht wagen, zum Arzt gehen. Sie haben Angst, in ihrer Illegalität entdeckt zu werden. Das führt dazu, dass sich plötzlich wieder Krankheiten ausbreiten, von denen wir eigentlich geglaubt haben, sie ausgerottet zu haben.

Das Gespräch führte Paul Starzmann.

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