Äußerungen von Friedrich Merz: Wie weit das Grundrecht auf Asyl reicht
Friedrich Merz’ Vorstoß gegen das Recht auf Asyl löst ein kurzzeitiges Beben aus. Der Grundgesetzartikel gilt als humanitäre Antwort auf Flucht und Vertreibung.
Das kurzzeitige politische Beben, das der Bewerber um den CDU-Vorsitz Friedrich Merz mit nur wenigen Sätzen ausgelöst hat, war ihm offenbar selbst nicht geheuer. „Deutschland ist das einzige Land auf der Welt, das ein Individualrecht auf Asyl in seiner Verfassung stehen hat“, hatte der Kandidat für den CDU-Vorsitz am Mittwochabend auf einer Regionalkonferenz im thüringischen Seebach gesagt. Es müsse darüber diskutiert werden, ob das im Grundgesetz verankerte Individualrecht auf Asyl „in dieser Form fortbestehen kann, wenn wir ernsthaft eine europäische Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik wollen“.
Merz erntete massive Kritik, auch aus seiner eigenen Partei. Im Verlauf des Tages ruderte er zurück: Er stelle das Grundrecht auf Asyl „selbstverständlich nicht“ infrage, teilte er mit. „Für mich steht aber fest, dass wir die Themen Einwanderung, Migration und Asyl nur in einem europäischen Kontext lösen können.“
Die humanitäre Antwort auf Flucht und Vertreibung
Unklar bleibt, ob Merz seine Sätze vom Mittwochabend wirklich nicht so gemeint hat oder ob er sie nur wegen der Kritik relativiert. Fakt ist: Der von ihm angesprochene Artikel 16a des Grundgesetzes ist symbolisch stark aufgeladen. „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, heißt dort. Diese Aussage galt als humanitäre Antwort auf Flucht und Vertreibung während des Zweiten Weltkriegs. Seit seiner Einführung ist der Artikel aber Gegenstand der politischen Auseinandersetzungen. In den 90er Jahren gab es Debatten darüber, ob das Asylrecht individuell einklagbar bleiben sollte. In anderen EU-Mitgliedstaaten hat das Asylrecht zwar mitunter ebenfalls Verfassungsrang, aber nicht zwingend als individueller Anspruch.
Auch in Deutschland hat sich die Lage in den vergangenen zwei Jahrzehnten verändert. Mittlerweile wird das historische Schutzversprechen der Verfassung von der EU-Qualifikationsrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU) und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) weitgehend überlagert. Die Qualifikationsrichtlinie regelt die Voraussetzungen für Anerkennung und Status von Flüchtlingen und den subsidiären Schutz, der dann gilt, wenn bei Rückkehr Gefahren für Leib oder Leben drohen. Hinzu treten die Genfer Flüchtlingskonvention mit dem Verbot, individuell und gezielt Verfolgte in Verfolgerstaaten zurückzuschicken, sowie die EU-Grundrechtecharta, die in Artikel 18 ein „Recht auf Asyl“ zusichert.
Die meisten genießen Schutz nach EU-Recht
Mit Blick auf diese transnationale Einbindung hat die Bedeutung des Grundgesetzartikels erheblich abgenommen. Es ist davon auszugehen, dass die in Deutschland anerkannten Asylbewerber auch bei einer Einschränkung – Merz hatte davon gesprochen, einen „Vorbehalt“ einfügen zu wollen – oder vollständiger Streichung des Grundrechts Schutz bekommen hätten. Entsprechend niedrig sind die Zahlen gemäß Artikel 16a anerkannter Asylfälle. Die meisten Flüchtlinge, insbesondere aus Bürgerkriegsgebieten, genießen Schutz nach der EU-Richtlinie. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) geht davon aus, dass aus den EU-Vorschriften Rechte entstehen, die gerichtlich durchgesetzt werden können. Folglich steht Deutschland nicht isoliert da. Auch in den anderen EU-Mitgliedstaaten ist Asyl einklagbar.
So erkannten die Mitgliedstaaten im Jahr 2017 insgesamt 538000 Bewerber als schutzbedürftig an, ein Viertel weniger als noch 2016. Die größte Gruppe waren Schutzssuchende aus Syrien, gefolgt von Afghanen und Irakern. Mehr als die Hälfte der positiven Entscheidungen fiel in Deutschland. Maßgeblich für die Zählung ist allerdings nicht die Asyldefinition des Grundgesetzes, sondern der Asylschutz gemäß der Qualifikationsrichtlinie, der, wie beschrieben, Flüchtlingsschutz und Abschiebeschutz einschließt.
"Asylkompromiss" brachte umfassende Änderung
Das Asylrecht im Grundgesetz kann geändert oder auch ganz abgeschafft werden, vorausgesetzt es findet sich die für Verfassungsänderungen nötige Zweidrittelmehrheit im Parlament. Zwar gibt es Bezüge zur laut Grundgesetz „unantastbaren“ Menschenwürde, doch das Bundesverfassungsgericht sieht diese bisher nicht als Hindernis. Die umfassendste Änderung gab es Anfang der neunziger Jahre beim so genannten Asylkompromiss. Damals wurde die Drittstaatenregelung eingeführt, wonach sich auf das Grundrecht nicht berufen kann, wer aus einem sicheren Herkunftsstaat einreist. Zugleich wurde die Möglichkeit eröffnet, solche Staaten listenmäßig festzulegen, um Ablehnungen zu erleichtern.
Ob der Asylartikel eine Einigung auf EU-Ebene über gemeinsame Standards und gerechte Lastenverteilung entgegensteht, wie Merz es angedeutet hatte, ist demnach zumindest zweifelhaft. Die deutsche Regelung ist in praktischer Hinsicht unerheblich geworden. Ihre Einschränkung könnte jedoch in der europäischen Diskussion als Signal gesehen werden, dass die Bundesrepublik von ihrem hohen Schutzniveau abrücken möchte. Möglicherweise könnte dies Lösungen erleichtern. Der Preis wäre allerdings ein innenpolitischer Streit um den symbolisch noch immer wirksamen Gehalt des Verfassungsartikels. Viele wollen ihn erhalten – auch aus Prinzip. (mit fiem)
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