Sachsens Ministerpräsident Kretschmer: "Dringend notwendig, unseren Markenkern stärker herauszuschälen"
Sachsens Regierungschef Michael Kretschmer spricht über den Wechsel an der CDU-Spitze, die Erfolgschancen der Kandidaten und die Probleme der SPD.
- Robert Birnbaum
- Antje Sirleschtov
Herr Kretschmer, nächstes Jahr wählen die Sachsen einen neuen Landtag. Wird diese Wahl für Sie und für die sächsische CDU leichter ohne Angela Merkel an der Parteispitze?
Das ist nicht die Kategorie, in der ich denke. Ich freue mich, dass die Kanzlerin, die ich sehr schätze, das Heft des Handelns in der Hand behalten hat. Sie merkt, dass sie als Parteivorsitzende nicht mehr diejenige ist, die neuen Aufbruch und Schwung erzeugen kann. Also macht sie Platz und nimmt sich persönlich zurück. Damit bleibt sie sich treu und zeigt allen wieder mal, dass sie eine große Persönlichkeit ist.
Die AfD, die Ihnen sehr zu schaffen macht, hat immer davon gelebt, dass sie „Merkel muss weg“ rufen konnte. Das geht jetzt nicht mehr. Ist das für Sie nicht doch eine gewisse Erleichterung?
So eindimensional lässt sich das nicht betrachten. Für uns ist entscheidend, dass wir eine neue Vorsitzende oder einen neuen Vorsitzenden bekommen. Das ist eine Chance, weil dadurch eine neue Dynamik entsteht. Wir haben verschiedene Kandidaten, das macht das Ganze spannend. Und dann kommt es darauf an, dass der oder die Neue gut mit der Bundesregierung zusammenarbeitet.
Sie sind auch Parteichef, kommen viel herum im Land. Wie waren die Reaktionen auf Merkels Rückzieher?
Die Leute hatten das nicht erwartet. Und sie waren froh, dass nicht wieder die üblichen Plattitüden kamen: „zurück zur Sacharbeit“, „nicht so viel streiten“ und so weiter. Da ist Erleichterung, dass es eine gewisse Konsequenz gibt, eine Chance auch, Dinge anders zu ordnen. Und alle sind enorm gespannt, wer es jetzt wird.
Manche meinen, dass Merkel ihr Amt als Bundeskanzlerin gleich mit aufgeben sollte, um einen echten Neustart zu ermöglichen. Was ist falsch daran?
Es gibt keinen Grund, hier in Hektik zu verfallen. Zunächst mal muss der Vorsitz der größten deutschen Partei geklärt werden. Und als Kanzlerin wird Angela Merkel noch sehr gebraucht. Grade in diesen Wochen. Ich habe zum Beispiel bei meinem Besuch in London erfahren, wie sehr man bei den Brexit-Verhandlungen auf sie schaut. Die Briten erwarten tatsächlich, dass die verfahrene Situation am Ende durch die Bundeskanzlerin geklärt wird. Angela Merkel kann hoffentlich auch mit Blick auf die Europawahl das Ganze noch mal ordnen, um eine positive Vision hineinzubringen. Dass der Wechsel an der Parteispitze am Ende zu einem neuen Bundeskanzler oder einer neuen Bundeskanzlerin führen wird, hat die Kanzlerin selbst gesagt. Aber das wird nicht heute oder morgen sein.
Friedrich Merz hat seine Kandidatur damit begründet, dass die Partei ihren Markenkern wieder finden und neu bestimmen müsse. Hat die CDU diesen Kern verloren?
Sie hat in der großen Koalition Kompromisse machen müssen. Viele Wähler halten diese Kompromisse mittlerweile für CDU-Programmatik. Deshalb ist es richtig, unsere Ziele wieder klarer zum Ausdruck zu bringen. Nicht nur beim Thema Migration, sondern etwa auch in der Wirtschafts- und der Energiepolitik. Friedrich Merz hat das richtig gesagt: Wir brauchen keine Revolution, es geht nicht darum, alles um 180 Grad zu drehen. Aber wir müssen wieder deutlich machen, was CDU ist. Und wo vielleicht doch mal eine Kursänderung nötig wäre.
Was heißt das denn konkret? Den Atomausstieg zurückdrehen, den Ausstieg aus der Braunkohle stoppen?
Nein. Der Atomausstieg ist beschlossen, das will eine Mehrheit der Bevölkerung so. Bei der Braunkohle geht es auch nicht um das Ob, sondern um das Wie und Wann. Wir müssen beim Ausbau der erneuerbaren Energien auf zweierlei achten: dass die Energiepreise nicht ausufern und dass die Versorgungssicherheit gewährleistet bleibt. Das würde ich mir von einer neuen Parteispitze stärker erwarten als bisher.
Aber über solche Dinge entscheidet die Regierung. Was würde es ändern, wenn ein neuer CDU-Vorsitzender betonen würde, dass die Partei manches eigentlich gerne ganz anders hätte?
Richtig. Oft bremst der Koalitionspartner oder der Bundesrat. Aber es geht immer auch um Kommunikation. Wir müssen den Menschen stärker zeigen, was Kompromisse sind – und was die CDU täte, wenn sie allein regieren würde. Wenn eine große Koalition zu lange regiert, werden die Ränder stärker. Es ist dringend notwendig, unseren Markenkern wieder stärker herauszuschälen.
Von den Kandidaten Friedrich Merz und Jens Spahn wird auch erwartet, dass sie die CDU konservativer machen. Ist das nötig?
Das sind Schubladen, mit denen ich wenig anfangen kann. Ist bessere Wirtschaftspolitik, mehr Engagement für Forschung und Bildung konservativ? Ich sehe Herausforderungen, die wir erfolgreich gemeistert haben. Und Probleme, deren wir nicht Herr geworden sind. Dort müssen wir nacharbeiten. Dann können die Leute hinterher gerne sagen, ob es konservativ ist oder liberal. Nur so funktioniert Profilierung, in dieser Reihenfolge.
Der Kandidat Spahn möchte noch mal über die Flüchtlingspolitik diskutieren...
Ich sehe hier vier Punkte, bei denen wir klarer werden sollten. Bei der Sicherung der Außengrenzen, im Umgang mit kriminellen Asylbewerbern, bei der Ausreise von Flüchtlingen ohne Bleibeperspektive und bei der Integration. Wie es nicht laufen sollte, zeigt der Streit um den UN-Migrationspakt. Hier hat die Bundesregierung völlig versagt. Das Thema wurde nicht öffentlich diskutiert, Dokumente in deutscher Sprache waren nicht vorhanden. So ist es für bestimmte Kreise dann einfach, zu hetzen und Falsches zu behaupten. In Zeiten des Populismus muss man mit solchen Dingen anders umgehen.
Hat die große Koalition aus Ihrer Sicht noch die Kraft für wichtige Entscheidungen bei all diesen Themen?
Ich würde es ihr wünschen. Wir wissen ja: Die Regierung besteht aus drei Parteien. Die CDU ist der stabilste Part, das muss auch so bleiben. Es hängt jetzt sehr viel davon ab, wie SPD und CSU wieder in die Arbeit zurückkommen, ob man sich wieder unterhakt. In der ersten großen Koalition 2005 bis 2009 war das alles ganz anders. Da wurden Probleme gelöst, das hat dem Land gut getan. Man kann nur hoffen, dass das nochmal gelingt.
Was muss geschehen, dass sich die beiden anderen Partner stabilisieren?
Ich bin nicht derjenige, der dem anderen Ratschläge zu geben hat. Dafür haben wir in der CDU genug zu tun.
Dann also zurück zur CDU und ihren Kandidaten. Sie haben ja gleich mehrere davon. Ist das gut?
Ich denke schon. Viele haben vermutet, dass bei einem Rücktritt der Vorsitzenden gleich ein Nachfolge-Vorschlag kommt. Ich halte es für gut und wichtig, die Mitglieder nun selber darüber entscheiden zu lassen.
Na ja, die Mitglieder entscheiden ja nicht, nur die Delegierten des Parteitages...
Die rund 1000 Delegierten bilden einen guten Querschnitt durch die CDU. Und wir haben gleich drei Kandidaten mit Erfolgsaussichten. Das wird eine ganz spannende Wahl.
Spricht es gegen Friedrich Merz, dass er fast so alt ist wie die Kanzlerin und zehn Jahre aus dem Geschäft war?
Nein, überhaupt nicht. Die Leute finden das ja gerade spannend: Dass da einer kandidiert, der sich treu geblieben ist, leider ausgeschieden ist, weil er mit seinen Ideen nicht durchkam. Dass da einer von außen kommt, der auch an anderer Stelle kompetent ist.
Ist Jens Spahn mit 38 Jahren zu jung für einen Parteivorsitzenden?
Nein, das zeichnet ihn eher aus. Viele finden gut, dass er nicht so stromlinienförmig ist, ins Risiko geht bei Themen oder Abstimmungen, an denen man sich auch verbrennen könnte. Und die Leute sehen ja, dass es in anderen Ländern ebenfalls junge und erfolgreiche Spitzenpolitiker gibt. Warum nicht auch in Deutschland?
Spricht es gegen Annegret Kramp-Karrenbauer, dass sie sich gut mit Merkel versteht?
Für sie spricht, dass sie von allen dreien wohl die meiste Erfahrung hat. Sie war Innenministerin, Bildungsministerin, hat auch schon schon eine Regierung geführt. Wenn Sie mit ihr diskutieren, merken Sie schnell, dass sie einen ganz klaren, unverstellten Blick auf den Osten hat. Es macht große Freude, mit ihr zu diskutieren.
Aber Kramp-Karrenbauer hat die größte Nähe zur politischen Ausrichtung Merkels. Ist das nicht eher ein Argument gegen sie, wenn die Partei doch Erneuerung und Korrekturen erwartet?
Sie ist von Angela Merkel als Generalsekretärin vorgeschlagen worden, das ist richtig. Aber man würde sie absolut unterschätzen, wenn man sie auf die Nähe zur Kanzlerin reduzieren würde.
Stimmt die CDU bei ihrem Parteitag denn auch schon automatisch mit über den nächsten Kanzlerkandidaten oder die nächste Kanzlerkandidatin ab?
Zumindest ist es sehr wahrscheinlich, dass die Person an der CDU-Spitze dafür eine zentrale Rolle spielen wird.
Das heißt: Es braucht große Einigkeit um beim nächsten Mal auch mit Kraft in den Wahlkampf ziehen zu können?
Die Sache hat eine Menge Risiken. Wenn man sich nach der Wahl zerstreiten würde, wenn diejenigen, die nicht zum Zuge kommen, das nicht akzeptieren können. Oder auch, wenn es dann Streit zwischen der Parteispitze und der Kanzlerin oder dem Fraktionsvorsitzenden gibt. Ein unabhängiger Parteichef ohne Regierungsamt könnte für die CDU als Volkspartei aber auch eine Riesenchance sein.
Warum?
Wir befinden uns hier in Deutschland an einer entscheidenden Wegmarke. Entwickeln wir uns in Richtung Italien, Frankreich oder anderer Länder mit vielen kleinen Splitterparteien? Oder schaffen wir es, das demokratische Parteiensystem zu stabilisieren und so auch beim nächsten Mal womöglich wieder die Kanzlerin oder den Kanzler zu stellen? Die neue Parteispitze muss sich dieser Verantwortung bewusst sein.
Wäre es aus Ihrer Sicht denn besser, wenn diese Koalition trotz aller Schwierigkeiten durchhält und noch bis zum Ende der Legislatur weiterregiert?
Ja, denn man kann einer Vertrauenskrise auch durch gute Arbeit begegnen. Union und SPD sollten die Möglichkeit nutzen, das Vertrauen der Wähler wieder neu zu begründen. Im Koalitionsvertrag stehen viele Dinge, die das Land wirklich voranbringen würden.
Helfen die Umbrüche bei der CDU womöglich auch der SPD wieder auf die Beine?
Es stabilisiert sie vielleicht kurz mal, weil die Aufmerksamkeit bei der Union liegt. Aber die SPD leidet an einer ganzen Reihe ungeklärter Fragen, auf die sie Antworten finden muss. Die Programmatik passt immer weniger in das 21. Jahrhundert. Die Angst vor den Grünen lähmt sie. Und wenn die Zahl der Ichlinge zu groß wird, ist ein vernünftiges gemeinschaftliches Agieren nicht mehr möglich. Zum Glück sind wir da etwas anders aufgestellt.
Zurück zur Kanzlerin und noch amtierenden Parteivorsitzenden. Bei den Urteilen über sie werden immer bestimmte Verhaltensweisen genannt: Konturlosigkeit, eine Neigung zum Lavieren, das Nicht-Erklären von Entscheidungen. Wie haben Sie Angela Merkel erlebt?
Interessanterweise sind die Beurteilungen seit dem vergangen Montag, 12 Uhr, ja viel freundlicher geworden als vorher. Ich freue mich darüber, denn das hat sie auch verdient. Sie ist Physikerin, bei ihr ist immer alles eine Funktion von etwas. Und sie hat eine Strategie, immer genau zu schauen, was möglich ist und was nicht. Aber Sie haben Recht: Mehr zu erklären, nach draußen zu gehen und öffentliche Debatten zu führen, ist notwendig in dieser Zeit.
Was werden Sie an ihr vermissen?
Vor allem ihren Humor, denke ich. Diese abgeklärte Art, die Dinge zu sehen. Und dann: die erste Frau als Bundeskanzlerin, die erste Ostdeutsche. Eine Regierungschefin, mit der wir so viel erlebt haben, die uns durch diese Finanz- und Wirtschaftskrise gebracht hat. Für mich ist Angela Merkel eine beeindruckende Persönlichkeit in vielerlei Hinsicht – mit großem Wissen und einer Expertise zu allem Möglichen, die einen immer wieder überrascht. Aber sie ist nicht weg. Noch gibt es nichts zu vermissen.
Michael Kretschmer (43) ist erst seit knapp einem Jahr Ministerpräsident von Sachsen. Er übernahm das Amt Ende 2017 von Stanislaw Tillich. Vorher saß der CDU-Politiker 15 Jahre lang als Abgeordneter im Bundestag. Kretschmer ist evangelisch, mit einer früheren Journalistin verheiratet und hat zwei Söhne.
Dem gebürtigen Görlitzer sitzen die Rechtspopulisten im Nacken, wie kaum einem anderen Politiker. Bei der Landtagswahl im September 2019 könnte die AfD seiner CDU als stärkste Partei bedenklich nahekommen. Politische Gegner werfen Kretschmer vor, sich nicht frühzeitig und entschieden genug von rechten Umtrieben abgegrenzt zu haben.