Merkels Abschied: Macron ist jetzt ein einsamer Mann
Frankreichs Präsident wollte die EU reformieren, mit Angela Merkel an seiner Seite. Die zögerte erst lange - und nun hört sie auf. Eine Kolumne.
Im Stimmengewirr der aktuellen Politik ist zurzeit vor allem ein Wort zu vernehmen: „liefern“. Als befänden wir uns auf einem Großmarkt. Die in der Agonie befindliche Groko soll liefern, die SPD, schon am Boden liegend, soll liefern, die frechen Grünen sollen liefern, der oder die zukünftige Vorsitzende der CDU wird liefern müssen. Politiker werden zu Dienstboten. Die Wähler geben ihre Bestellung auf, indem sie einen Zettel ihrer Wahl in die Urne stecken und erwarten, dass ihr Kandidat ihnen die Lösung all ihrer Probleme liefert. Wie wäre es gleich mit einer radikalen Gesellschaftsveränderung frei Haus? Es stehen bereit: Der größte Lieferant des Planeten, Donald Trump, gefolgt von einer Schar Populisten in Frankreich, Deutschland, ganz Europa, ja sogar im fernen Brasilien.
Die deutsche Politik gleicht einem riesigen Lieferservice. Nur dass es leichter ist, Gemüsekisten oder Fleisch zu liefern als Koalitionsverträge oder Fahrpläne. Übrigens: Kann mir jemand den Unterschied zwischen einem Koalitionsvertrag und einem Fahrplan erklären? Abgesehen davon, dass der eine Begriff aus der Rechtsprechung kommt, der andere von der Deutschen Bahn? Sicher ist: Mit Angela Merkels Abschied in zwei Etappen wird die EU Mühe haben zu liefern. Für Emannuel Macron eine sehr schlechte Nachricht. Mit ihrer Politik der Mitte, ihrer dreizehnjährigen Erfahrung, ihrer besonnenen Art, durch Krisen hindurchzusteuern, war Merkel seine Hauptverbündete.
Auf wen soll er warten? Auf die Grünen?
Und jetzt das: Ein unberechenbares Deutschland, das Nabelschau betreibt und seit einem Jahr und für weitere unabsehbare Monate mit seiner innenpolitischen Krise beschäftigt ist. Und die Kandidaten, die als Nachfolger von Angela Merkel ins Rennen gehen (eine oder einer von ihnen könnte eines Tages Kanzler sein), sind nicht alle gerade glühende Verfechter der europäischen Sache. Europäische Ambitionen stehen in Deutschland nicht mehr auf der Tagesordnung. Seit Montag ist Macron ein einsamer Mann.
Drehen wir die Zeit 18 Monate zurück: Ein junger Präsident mischt die verkrustete französische Politik auf und schlägt einen ehrgeizigen europäischen „Relaunch“ vor. Er ist jung und kühn. In einer Welt, die „durch Angst, nationalen Rückzug und die Folgen der Wirtschaftskrise gespalten ist“, möchte er ein „souveräneres und multilaterales Europa“. Der Front National und die „nationalistische Pest“ sind vergessen. Macron setzt auf Fortschritt gegen Populismus.
Die Deutschen jubeln, als wäre ein Heiland auf der anderen Seite des Rheins geboren worden. Doch mit dem Jubel ist es nach den Wahlen in Deutschland vorbei. Nichts ist mehr so, wie es vorgesehen war. Die Fortsetzung ist bekannt: der Aufstieg der AfD, der Niedergang der Volksparteien, eine schwächelnde Groko, die sich von Krise zu Krise hangelt und heute nur noch ein Schatten ihrer selbst ist. Spätestens seit dieser Woche dürfte Macron klar sein: Es hat keinen Zweck mehr zu warten, es wird kein Wunder geben. Berlin hat die Tür wieder geschlossen und die Bremse in Sachen Europa gezogen. Merkel und Macron werden vor den Europawahlen im Mai sicher keinen neuen deutsch-französischen Anstoß geben. Es geht – leider! – nur noch um Schadensbegrenzung. Es sei denn… die Grünen kommen zurück an die Macht. Annalena Baerbock und Robert Habeck könnten die letzte Hoffnung des französischen Präsidenten sein. Jetzt müssen sie liefern. Emmanuel Macron wartet.
Übersetzung aus dem Französischen: Odile Kennel