AKW-Rückbau in Deutschland: Schafft Deutschland den Atom-Ausstieg?
Vor sieben Jahren wurde der Abschied von der Kernenergie beschlossen. Der Rückbau der Atom-Anlagen gewinnt an Dringlichkeit. Es ist ein gewaltiges Unterfangen.
Michael Krügers Arbeitsplatz ist eine Welt für sich. Im orangen Dienstoverall, mintfarbener Unterwäsche, Schuhen mit dicken Plastiksohlen passiert er Kontrollpunkt über Kontrollpunkt, lässt seinen Dosimeter auf vorhandene Strahlung prüfen, streift sich weiße Stoffhandschuhe und Überschuhe über, bis er dort ankommt, wo er gebraucht wird. Tief im Innern des Akw Unterweser läuft er Trauben von Kollegen ab, bespricht mit ihnen in engen Korridoren die Zerlegung meterdicker Kühlrohre, Elektromotoren und nuklearer Zwischenkühler, teils sechs Meter hoch. Der 56-Jährige ist Projektleiter für Demontage des Kraftwerks. Er sagt: „Unser Hauptproblem ist der Platz. Den müssen wir in kleinen, sicheren Schritten erst schaffen. Im Moment ist es ein Puzzle, aber es läuft nach Plan.“
Was einst so massiv und eng gebaut wurde, um Flutwellen, Flugzeugabstürzen und Terrorangriffen standzuhalten, wird seit Februar demontiert, zersägt, verpackt und für den Abtransport vorbereitet. Das Akw Unterweser, von 1978 bis zum zweiten Beschluss der Bundesregierung zum Atomausstieg im März 2011 am Netz, wird von innen nach außen zurückgebaut.
Der AKW-Rückbau wird noch Jahrzehnte dauern
Was Krüger hier in kleinen Schritten abwickelt, ist nicht weniger als sein eigener Job. Und doch wird er um Arbeit so schnell nicht bangen müssen. Seine Expertise ist gefragt. Seit dem eiligen Ausstiegsbeschluss nach der Katastrophe von Fukushima hat der Rückbau an Dringlichkeit gewonnen. Immer mehr Akw-Betreiber haben seit März 2011 Rückbau- und Stilllegungsanträge gestellt. Sieben weitere Akw gehen bis 2022 vom Netz. Nur: Viele andere Reaktoren befinden sich seit Jahren im Rückbau. Manche, wie das Kernkraftwerk Stade, werden seit Jahrzehnten zerlegt. Die Aufgaben sind komplexer und langwieriger als Politik und Betreiber annahmen. Die Beseitigung des strahlenden Materials wird noch Jahrzehnte dauern.
Jetzt, wo es um den Rückbau der alten Kraftwerke geht, die Beseitigung der strahlenden Altlasten, kommt ein weiteres Problem hinzu. Akteure, die eigentlich zusammenarbeiten müssten, befinden sich im Streit. Einst formierte sich in der Nähe der Atomkraftwerke und Zwischenlager, um Brokdorf, Brunsbüttel oder im Wendland der Widerstand gegen die Atomkraft. Heute bilden sich ebendort Initiativen, die den Rückbau der Akw verhindern wollen. Energieunternehmen versprechen den Rückbau zur „grünen Wiese“, das geflügelte Wort, wenn es um die Abwicklung der Atomkraft geht. Teile der alten grünen Basis trauen dem Diktum nicht, fürchten die Entweichung von Strahlung in die Umwelt. So etwa in Brokdorf, Rodenkirchen oder Harrislee. Die Liste der Initiativen ist lang.
"Das ist eine Mammutaufgabe"
Krüger blickt in den Ringraum, weit unterhalb des Reaktors. Einst befanden sich hier die Ersatzkühlsysteme. Etliche blaue und rote Markierungen geben Auskunft über die Strahlung jedes verbauten Teils. Später sollen sie nach Kontamination und Stoffgruppe getrennt und immer wieder gemessen werden, bevor sie das Kraftwerk verlassen. „Das Atomgesetz hat für uns nicht aufgehört zu existieren. Wir schauen uns jeden Quadratmeter mehrfach an. Das kostet natürlich Zeit“, sagt Krüger. „Geräte, die wir für die Zerlegung brauchen, müssen erst gebaut und montiert werden.“ Andere Bereiche nahe dem gefluteten Reaktor könnten nur mit ferngesteuerten Maschinen erreicht werden.
Allein die Untersuchung von Proben, die derzeit dem gefluteten Druckbehälter entnommen werden, zieht sich über Monate. Noch immer befindet sich Brennstoff im Abklingbecken. „16 Jahre soll der Rückbau dauern. Das ist eine Mammutaufgabe“, sagt Krüger.
Wenige Kilometer entfernt formiert sich der Widerstand. „Wir befürworten den Rückbau, aber es gibt viele offene Fragen“, sagt Jürgen Janssen. Da sei das Zwischenlager, das weder gegen Flugzeugabstürze noch gegen Sturmfluten hinreichend gesichert sei. Da seien 7000 Tonnen Bauschutt, die im Laufe des Rückbaus auf einer Deponie im nahen Brake entsorgt werden sollen. „Das ist eine Weiterleitung von Radioaktivität in die Umwelt. Wir fordern eine zentrale Deponie nach französischem Vorbild“, sagt Janssen. „Und jeder weiß, dass bis 2032 kein Endlager gefunden ist.“
Der 66-Jährige ist Teil der Bürgerinitiative „Aktion Z“, die sich einst im Widerstand gegen das Zwischenlager auf dem Kraftwerksgelände bildete. Bis zu 80 Menschen engagieren sich dort laut Janssen. In Ihrem Kreis: ein Landwirt, der derzeit die Rückbaugenehmigung im Ganzen beklagt. Mit seiner Haltung ist er nicht allein.
Angst vor der Strahlung
Einer, der seit der ersten Stunde gegen die Atomkraft kämpfte, ist Karsten Hinrichsen. Vier Jahrzehnte des Widerstands liegen hinter ihm. 13 Jahre klagte er gegen den Betrieb des Akw Brokdorf im Süden Schleswig-Holsteins, wenige Monate nach der Katastrophe von Tschernobyl ging es ans Netz. Nun sitzt der 75-Jährige mit schütterem grauem Haar im Garten seines Hauses am Elbufer, nicht einmal einen Kilometer vom Meiler entfernt, und wettert gegen den Rückbau. „Lasst die Meiler doch stehen. Das sind befestigte, bewachte Gelände, sicherer als jedes Zwischenlager“, sagt er. „Die grüne Wiese ist ohnehin eine Illusion. Für Jahrzehnte, für Jahrhunderte.“
Mit der Bürgerinitiative „Brokdorf akut“ engagiert er sich noch immer für eine schnellere Abschaltung des Reaktors, der bis 2021 laufen soll.
Rasch spricht Hinrichsen von der Strahlenbelastung, die vom Rückbau ausgehe – seine eigentliche Sorge. „Es gibt keine ungefährliche Strahlung. Die Belastung in der Umwelt wird rapide zunehmen“, sagt er. Hinrichsens Problem: Paragraph 29 der Strahlenschutzverordnung, die „Freimessung“ des Materials. Reaktorschutt, der eine zusätzliche Strahlenbelastung von unter zehn Mikrosievert pro Jahr aufweist, kann aus dem Atomrecht entlassen werden. „Weil es für die Politik und die Betreiber günstiger ist, Material auf Deponien zu lagern, zu verbrennen und zu recyclen“, sagt Hinrichsen. Reaktorschutt im Straßenbau, im Stahlbeton des Wohnhauses, im Metall des Heizkörpers, im Aluminium des Kinderwagens – das sieht Hinrichsen.
Skeptisch blickt Hinrichsen auch auf die Castoren, testiert auf 40 Jahre, ebenso wie die Zwischenlager. Auch Anti-Atomkraft-Organisationen, etwa „ausgestrahlt“, die wie Greenpeace vor Jahren einen Platz in der Endlagerkommission ablehnten, weiter Opposition betrieben, wettern seit Jahren gegen die Konzepte der Zwischenlagerung. Zwischen 2034 und 2047 laufen die Genehmigungen für die Castorenlager in Deutschland aus. Hinrichsen sagt: „Wir wissen noch nicht einmal, wohin mit dem Zeug. Bis beide Endlager stehen, sollte es keinen Rückbau geben.“
"Wir haben Erfahrung damit, und wir sind technisch vorbereitet"
Was Hinrichsen und Janssen ansprechen, lässt sich auch in Unterweser beobachten. Direkt neben dem Reaktorgebäude steht das Zwischenlager für hochradioaktive Stoffe, 80 Meter lang, 23 Meter hoch. 39 Castoren befinden sich darin, in jedem 19 hochradioaktive Brennelemente. Ausgelegt auf 40 Jahre – bis das Endlager gefunden und einsatzbereit ist. Seit Februar befindet sich ein zweites Zwischenlager für schwach- und mittelradioaktive Stoffe in Bau. Rund 17 Millionen Euro soll es kosten. Der Rückbau-Verantwortliche in Unterweser, Jochen Rotzsche, macht während eines Gesprächs im Nebengebäude keinen Hehl daraus, dass sich das Unternehmen diese Kosten gerne gespart hätte.
Doch Schacht Konrad, das stillgelegte Eisenerzbergwerk und Endlager für schwach- und mittelradioaktive Stoffe, ist nicht einsatzbereit. Meterlange Skizzen zeigen die Planungen zum Rückbau auf, nach Würgassen und Stade der dritte für das Unternehmen. „Wir haben Erfahrung damit, und wir sind technisch vorbereitet“, sagt Rotzsche. Er sagt auch: „Die Menschen in der Umgebung müssen durch den Rückbau keine Angst vor zunehmender Strahlung haben.“
Grünen-Vorsitzender Habeck mahnt zur Eile
In Schleswig-Holstein kennt man diese Angst. Ausgerechnet ein Grüner hatte dort sechs Jahre lang die Abwicklung der Atompolitik vergangener Bundesregierungen zu verantworten. Von seinem Büro im Umweltministerium an der Kieler Förde musste Robert Habeck den Rückbau von gleich vier Kernanlagen voranbringen. Den Stand ihres Rückbaus bewertet der Parteichef heute positiv. Genehmigungsanträge für Stilllegung und Abbau aller Reaktoren lägen vor.
„Wir sehen aber, dass alles, was aus Atomkraftwerken kommt, immer wieder Sorgen auslöst. Deshalb ist es wichtig, hier für ein transparentes und klares Verfahren zu sorgen, mit dem die freigegebenen Abfälle verwertet oder deponiert werden“, sagt Habeck. Sein Dialogangebot, mit dem er vor Jahren die Bevölkerung informieren und gewinnen wollte, hätte „zu einer völligen Eskalation der Lage“ geführt. In den vergangenen anderthalb Jahren seien daher mit den relevanten Verbänden Grundlagen erarbeitet worden.
Bei der Suche nach einem Endlager für hochradioaktive Stoffe mahnt er dennoch zur Eile. „Das ist ein Prozess, der die Gesellschaft und Politik enorm fordern wird“, sagt Habeck. Je konkreter die Suche nach einem Endlager wird, desto härter würden die Diskussionen. „Ich appelliere an alle Bundesländer, dem Suchprozess im gesamtem Bundesgebiet keine Steine in den Weg zu legen.“ Er sagt weiter: „Wir können nicht mehr auf Zeit spielen. Es ist die Aufgabe unserer politischen Generation, die Verantwortung tatsächlich zu übernehmen und ein Endlager zu finden, das so sicher wie irgend möglich ist. Der Atommüll löst sich nicht in Luft auf.“
Sein Appell richtet sich auch an die Anti-Akw- Bewegung. „Der politische Widerstand, der mal gegen die Fortsetzung der Atompolitik gegründet wurde, verhindert heute ihre Beendigung“, sagt Habeck. Viele Behörden würden von sehr atomkritischen Ministern geleitet. Die meisten bieten Transparenz und unabhängige Gutachten zur Begleitung an. „Der Rückbau ist ein Teil des Atomausstiegs. Ohne die Entsorgung wird es keinen Abbau der Atomkraftwerke geben und damit ein Verschieben der Verantwortung in die nächsten Generationen.“
"Es geht hier auch um Unumkehrbarkeit"
Auch nicht alle Atomkraftgegner der ersten Stunde teilen die Ängste der Rückbaugegner. Bettina Boll ist eine von ihnen. Umgeben von Transparenten, Postern, Zeitungsausschnitten sitzt die 64-Jährige neben ihrem Mann im Arbeitszimmer ihres Hauses in Geesthacht. Bücher über die Protestbewegung säumen den Tisch. Ihrer Protestbewegung. Boll sagt: „Wir wissen auch nicht mit Sicherheit, welcher Schritt richtig ist und welcher nicht. Aber die 100-Prozent-Lösung gibt es nicht. Diese Schwarz-Weiß-Kämpfe führen zu nichts. Wir müssen jetzt eine Lösung finden.“
Seit fast vier Jahrzehnten engagieren sich Bettina und Gerhard Boll gegen die Atomkraft. Sie waren 1981 dabei, als rund 100.000 Menschen vor den Bauzaun des Akw Brokdorf zogen, sich dort mitunter Straßenschlachten mit der Polizei lieferten. Sie organisierten 2010 die Menschenkette von Krümmel nach Brunsbüttel mit, die 120.000 Menschen gegen die Atomkraft zusammenbrachte. Sie klagten noch im vergangenen Jahrzehnt gegen den Betrieb des Zwischenlagers in Krümmel. Seit 2011 setzen sie auf den Rückbau.
„Wir wollen nicht, dass das Problem durch die Generationen getragen wird. Das Know-how ist noch da, das Personal ist noch jung. Was ist, wenn die Verdrängung von Fukushima irgendwann erfolgreich ist? Lass nur die politischen Gegebenheiten eines Tages kippen“, sagt Gerhard Boll. „Es geht hier auch um Unumkehrbarkeit.“
Anfangs waren auch sie skeptisch. Nun sprechen sie von „einem gewissen Vertrauen in diese Menschen“, die Betreiberfirma, ihre Mitarbeiter, man habe das gleiche Ziel vor Augen. Immer wieder seien sie im Akw, informieren sich über den Stand des Rückbaus, beobachten, wie Material dekontaminiert und immer wieder auf Strahlung gemessen wird. Doch der Ernst in ihren Gesichtern, die dunkle Klangfarbe in ihren Stimmen bleibt. „Es gab nie eine befriedigende Antwort, was den Müll betrifft. Diese Frage ist bis heute nicht gelöst“, sagt Gerhard Boll.
Am liebsten würde er das Material nicht aus dem Atomrecht entlassen sehen. „Wir brauchen eine Diskussion und eine gute Dokumentation über die Einlagerung. Die Diskussion ist noch nicht abgeschlossen.“ Mit bitterer Miene sagt er: „Der Pflegefall in Krümmel bleibt ja.“
Die Haftung für den Atommüll wird komplett beim Staat liegen
Anfang 2019 werden die zwölf Zwischenlager für hochradioaktive Abfällen an den Bund, genauer an die Gesellschaft für Zwischenlagerung, übergeben. Die Lager für schwach- und mittelradioaktive Stoffe folgen 2020. Aus der Zwischen- und Endlagerung hatten sich die Energiekonzerne erst im vergangenen Jahr freigekauft, überwiesen 24,1 Milliarden Euro in den staatlichen Entsorgungsfonds. Die Haftung für den Atommüll liegt damit komplett beim Staat.
In der Endlagerkommission des Bundes saß als Vertreter der Wissenschaft auch der Atomexperte und ehemalige Strahlenschützer des Bundes, Bruno Thomauske. Schon 2014 veröffentlichte er eine Berechnung, die den Zeitplan der Bundesregierung völlig infrage stellte. Nachfolgenden Generationen würden „wesentliche Teile der Problemlösung aufgebürdet“. Die Endlagersuche erfordere erheblich mehr Zeit als im Standortauswahlgesetz formuliert. Thomauske sprach von einer realistischen Inbetriebnahme im Jahr 2083 – rund 30 Jahre später als beabsichtigt. Die Betreiber müssen sich mit diesen Sorgen nicht mehr befassen. Sie verantworten nur noch den Rückbau der Atommeiler selbst.