Trotz des Misserfolgs in Afghanistan: Die westliche Allianz kann ihre Kernziele noch erreichen
20 Jahre Militäreinsatz in Afghanistan endeten fatal. Für die Öffentlichkeit wird der Kurswechsel nun zum Crashkurs in Realpolitik. Ein Kommentar.
Nach Abzug des letzten US-Soldaten aus Kabul gilt der umgekehrte Clausewitz. Nicht: Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Sondern: Politik ist die Fortsetzung des militärischen Konflikts mit anderen Mitteln.
Viele Ziele, die eine US-geführte Koalition vor 20 Jahren zur Intervention in Afghanistan veranlasst hatten, sind weiter aktuell. Dazu gehören der Schutz vor islamistischen Terrornetzen, die dort eine Basis suchen; Hilfe für die vielen Afghanen, die keine Taliban- Anhänger sind; politische und wirtschaftliche Stabilität als Basis für Sicherheit.
Der Abzug erzwingt weitere Ziele, darunter die sichere Ausreise von Ortskräften, die den westlichen Einsatz unterstützt haben und nun um ihr Leben fürchten.
"Kein Cent nach Afghanistan"? Schon gekippt
Ein Hauptdruckmittel fehlt künftig, die militärische Präsenz am Boden. Andere gewinnen erst recht an Gewicht: Diplomatie, Kooperation mit anderen Staaten zur Beeinflussung der Taliban und zur Kontrolle von Migration, Entzug oder Gewährung finanzieller Hilfe. Selbst militärische Mittel bleiben, wie die US-Drohnenschläge zeigen.
Der Kurswechsel eröffnet einer Öffentlichkeit, die sich gewöhnlich für das Handwerk der Außen- und Sicherheitspolitik wenig interessiert, die Gelegenheit zu einem Crashkurs in Realpolitik. Er illustriert zugleich das Spannungsverhältnis zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Vier Beispiele.
Geld: Vor 14 Tagen hatte Außenminister Heiko Maas empört betont, Deutschland werde „keinen Cent mehr nach Afghanistan geben“, wenn die Taliban die Macht komplett übernehmen und ihre Ideologie von Recht, Religion und Alltagsleben durchsetzen. Nun spricht sich Kanzlerin Angela Merkel für humanitäre Hilfe aus.
Die Bundesregierung ist bereit, Geld für die sichere Ausreise von Ortskräften zu bezahlen. Sie sollte auch prüfen, welche Entwicklungshilfeprojekte sie unter den Taliban mit Aussicht auf Erfolg fortführen kann.
Maas besucht zwielichtige Partner
Diplomatie: Maas besucht die Machthaber in der Türkei, Usbekistan, Tadschikistan, Pakistan und Katar. Sie sind allesamt keine Vertreter westlicher Werte, keine Wunschpartner. Die Türkei hält 120 Deutsche als Faustpfand, teils in Haft, teils mit Ausreiseverbot. Es wäre aber ein Fortschritt, wenn sie hilft, den Flughafen von Kabul für zivile Flüge zu öffnen.
Usbekistan ist eine Diktatur, doch afghanische Ortskräfte ausfliegen konnte die Bundeswehr, weil sie Stützpunkte dort als Zwischenstopp nutzen durfte. Katar gilt mit Blick auf die Fußball-WM 2022 in Deutschland als Macht der Finsternis, vermittelt aber direkte Gespräche mit den Taliban.
[Jeden Donnerstag die wichtigsten Entwicklungen aus Amerika direkt ins Postfach – mit dem Newsletter „Washington Weekly“ unserer USA-Korrespondentin Juliane Schäuble. Hier geht es zur kostenlosen Anmeldung]
Fast unerträglich wird der Spagat zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik im Umgang mit Pakistan. Offiziell will es Partner des Westens sein, hat aber Al-Qaida-Chef Osama bin Laden Unterschlupf gewährt und seit Jahren die Rückkehr der Taliban unterstützt. Pakistan hat dort Gewicht; wer es ignoriert, beraubt sich einer Einflussmöglichkeit.
Ortskräfte schützen, ohne Terroristen einzuschleusen
Ortskräfte: Deutschland hat eine Schutzpflicht für Afghanen, die der Bundeswehr geholfen haben. Bei der Entscheidung jedoch, wer hier Aufnahme findet, muss die Regierung Sorge tragen, dass nicht – wie bei der Massenmigration aus Syrien – potenzielle Gewalttäter und Terroristen eingeschleust werden.
Sicherheit vor dem IS: Nach ihrem Sieg gelten die Taliban als größte Bedrohung der Menschenrechte in Afghanistan und als Risiko, dass erneut Terrornetzwerke von dort aus Anschläge im Westen planen. Und doch könnte die Entwicklung die USA, Deutschland und ihre Partner zwingen, sie zu unterstützen. Dann nämlich, wenn der mit den Taliban verfeindete, weit radikalere Islamische Staat (IS) Gebiete erobert. Als das in Syrien geschah, verbündete sich der Westen mit Diktator Assad, den er zuvor bekämpft hatte, und dessen Schutzmacht Russland, um das größere Übel zu besiegen. In Afghanistan kann es auch soweit kommen.
20 Jahre Militäreinsatz in Afghanistan enden als Misserfolg. Kernziele können Deutschland, Europa und die USA immer noch erreichen: mit Realpolitik.