Denkzettel Afghanistan: Noch im Scheitern ein Hang zu Allmachtsfantasien
Die Lehre aus dem Misserfolg des Demokratisierungsexperiments: Europa und Amerika müssen nüchterner prüfen, was sie können - und was nicht. Ein Kommentar.
Deutschland möchte Lehren aus dem gescheiterten Afghanistaneinsatz ziehen. Nur, wie soll das gehen, wenn die Debatten so realitätsfern geführt werden, wie sie vor 20 Jahren begonnen hatten: mit einer Geringschätzung für Realpolitik und einem ebenso naiven wie arroganten Glauben an eine ideelle, militärische und technische Allmacht des Westens?
Vordergründig gibt sich Deutschland jetzt schuldbewusst, was es alles falsch macht. Doch selbst die Zerknirschung spiegelt überzogene Erwartungen, was die Regierungen von Berlin bis Washington in den Tagen des Untergangs von Kabul leisten können. Das eigene Scheitern wird überhöht, die Verantwortung der Afghanen für ihre Zukunft unterspielt, die zentrale Rolle von Nachbarn wie Pakistan beim Triumph der Taliban übergangen.
Nach dem Terrorangriff auf New York und Washington 2001 wollte sich Deutschland nicht damit begnügen, dass die Al-Qaida-Anführer zur Verantwortung gezogen werden, die die Attacke unter dem Schutz der Taliban geplant hatten. Die Petersberg-Konferenz entwarf den Auftrag, ein Land zur Vorzeigedemokratie zu formen, das seit Jahrzehnten nur Bürgerkrieg kannte und in dessen Traditionen westliche Werte keine prägende Rolle spielen. Welche Hybris! Wer zu viel will, scheitert.
Abzug aus einem Kriegsgebiet ohne Opfer? Eine Illusion
Heute wird verlangt, der Abzug aus einem Kriegsgebiet auf der anderen Seite des Globus habe reibungslos und ohne Opfer abzulaufen. Europa und Amerika sollen Hunderttausende, wenn nicht Millionen Menschen aufnehmen. Deutschland diskutiert, als seien die Transportkapazitäten der Bundeswehr sowie die finanziellen Ressourcen und die Integrationsfähigkeit des Landes unbegrenzt.
Dabei tun sich Parteien hervor, die ein Verteidigungsbudget von zwei Prozent des BIP seit Jahren ablehnen. Ohne den Schutz des US-Militärs am Flughafen Kabul ginge gar nichts. Wer nun aus Enttäuschung über die USA ableitet, Europa müsse geopolitisch und militärisch eigenständiger werden, sollte den Wählern ehrlich sagen: Dafür müssten Deutschland und seine Nachbarn eher vier bis sechs als die umstrittenen zwei Prozent vom BIP aufwenden.
Alle Seiten fühlen sich im Stich gelassen
Ein weiteres gängiges Urteil über das Versagen: Der Westen lasse die Afghanen im Stich. War es nicht etwas komplizierter? Europa und die USA haben viel Geld und Vertrauen in afghanische Eliten investiert. Die wollten oder konnten aber, als es drauf ankam, keine Verantwortung für ihr Land übernehmen.
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Präsident Ashraf Ghani machte sich aus dem Staub, offenbar mit Millionen Dollar. Soldaten und Offiziere, die der Westen über Jahre ausgebildet und ausgerüstet hat, kämpften nicht für ihre Zukunft. Ähnlich einseitig klingen manche Narrative über die Ortskräfte. Natürlich hat der Westen eine Schutzpflicht. Aber es hilft auch nicht, sie jetzt zu selbstlosen Helden der Freiheit zu stilisieren.
Was also sollten deutsche Lehren aus Afghanistan sein?
Bescheidenheit bei den Zielen von Auslandseinsätzen; Einfluss und Ressourcen sind begrenzt. Orientierung an eigenen Interessen, voran Sicherheit vor Terror und unkontrollierter Migration.
Rehabilitierung der Realpolitik
Wer von Staat und Militär besondere Fähigkeiten erwartet, muss ihnen die nötigen Mittel geben. Bereitschaft zur Realpolitik beim Abzug, selbst im Umgang mit den Taliban. China und Russland machen es vor: Kooperation mit den Taliban unter der Bedingung, dass die die muslimischen Minderheiten in China und Russland nicht aufwiegeln.
Kritisches Aufarbeiten der Fehler ist unerlässlich. Dazu gehört aber auch, sich nicht vorschnell auf vermeintliche Gründe des Scheiterns festzulegen.