G-7-Beratungen über Afghanistan: Eine Verlängerung des Evakuierungseinsatzes wäre nicht klug
US-Präsident Biden hält am Abzugstermin 31. August fest. Gut so. Oder soll die Bundeswehr gegen die Taliban kämpfen? Ein Kommentar.
Es ist ein Sinnbild für Macht und Ohnmacht. So wie für die Grenzen militärischer Dominanz in einem asymmetrischen Krieg. Sieben der neun größten Volkswirtschaften der Erde beraten über ihre Optionen in Afghanistan. Sie verfügen über fast die Hälfte der Wirtschaftskraft des Globus, Afghanistan nur über einen Promilleanteil. Und doch können sie ihren Willen dort nicht durchsetzen.
Die drängendste Frage für die G 7: Wie holen sie ihre Staatsbürger aus dem Land und die Ortskräfte, die ihnen über Jahre bei dem am Ende nicht sehr erfolgreichen Bemühen geholfen haben, Afghanistan zu befrieden und zu modernisieren – jedenfalls die, denen unter den Taliban Todesgefahr droht? Und ist US-Präsident Joe Biden bereit, dafür die Abzugsfrist über den 31. August hinaus zu verlängern? Ohne den Schutz der US-Truppen können die anderen wenig ausrichten.
Nur: Ist dieses Ansinnen, für das Gastgeber Boris Johnson laut geworben hatte, überhaupt klug? Eine Verlängerung bedeutet Kämpfe mit den Taliban; das haben deren Führer klargestellt. Schon jetzt gibt es Schießereien, wenn westliche Soldaten Schutzbefohlene aus der ungesicherten Zone vor dem Flughafen holen wollen.
Verstörende Aussichten für eine postheroische Gesellschaft
Zudem könnte sich der Glaube, dass die Taliban bis zum 31. August stillhalten, als Illusion erweisen. Sie haben kein Interesse an dem Narrativ, der Westen habe nach 20 Jahren von sich aus den Abzug beschlossen. Ihrer Propaganda dienen Bilder, auf denen siegreiche Islamisten die USA und deren Verbündete zur Flucht zwingen, viel besser.
Das gilt erst recht für noch radikalere Kräfte wie den IS. Warnungen vor möglichen Bombenanschlägen auf die vor dem Airport wartenden Massen sind ernst zu nehmen.
Das sind verstörende Aussichten, zumal für eine postheroische Gesellschaften wie die deutsche. Sie hatte über Jahrzehnte das Glück, sich nicht mit den militärischen Aspekten solcher Szenarien auseinandersetzen zu müssen. Und sie hat die deutsche Beteiligung am Einsatz in Afghanistan im Kontrast zum „falschen Krieg“ im Irak toleriert, weil die Mission am Hindukusch Demokratie und Emanzipation zum Ziel hatte.
Es bleiben eher Stunden als Wochen, um Gefährdete auszufliegen
Biden hat nahezu 50 Jahre Erfahrung in der Außen- und der Kriegspolitik der USA. Wegen der Risiken hat er sich offenbar gegen die Verlängerung entschieden. Doch selbst wenn er zu ihr bereit wäre: Würde der Bundestag den Stabilisierungsauftrag der Bundeswehr im Abzug noch in einen Kampfauftrag verwandeln wollen? Wohl kaum.
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Die Devise sollte jetzt sein: möglichst viele Landsleute und Ortskräfte möglichst schnell ausfliegen. Das Zeitfenster bemesse sich eher „in Stunden als in Wochen“, beschrieb der britische Verteidigungsminister Ben Wallace die Realität vor der G-7-Runde.
Über die Schicksale der Menschen, bei denen das nicht gelingt, können und müssen Deutschland und die G-7-Partner mit den Taliban verhandeln. „Freikaufen“ war schon im Kalten Krieg ein probates Mittel, um Werte zu verteidigen, ohne Krieg zu riskieren.
Lehren aus dem Kalten Krieg: Helfen, wo es geht - wissen, was nicht geht
Generell können Erfahrungen aus dem Kalten Krieg helfen, Gewissens- und Entscheidungsnöte einzuordnen. Oft hört man jetzt die Klage, es solle doch, bitte, niemand mehr von Werten reden, wenn der Westen sie nicht durchsetze. Aber er hat auch in keinen Aufstand im Ostblock eingegriffen: DDR 1953, Ungarn 1956, Prag 1968, Polen 1981 – und wusste, warum. Er greift auch heute meist nicht ein, wenn seine Werte schändlich missachtet werden, von Afrika über den Iran und China bis Nordkorea.
Die Werte verlangen, zu helfen, wo man kann. Und zu wissen, was man besser lässt, weil der Erfolg weniger wahrscheinlicher ist als ein Scheitern. Da liegt immer wieder das Risiko der militärischen Auslandseinsätze.
Das Zeitfenster, in dem der Westen seine Bürger in Afghanistan und die Ortskräfte mit Militär retten kann, schließt sich. Die reichen G7 haben aber die Mittel, um diplomatisch für sie einzutreten und die Lage der Afghanen, die zurückbleiben, durch humanitäre Hilfe zu lindern. Auch so verteidigen sie ihre Werte.