zum Hauptinhalt
Vom Ministeramt verabschiedet, um sich ganz auf den Berliner Wahlkampf zu konzentrieren: Franziska Giffey (SPD).
© picture alliance/dpa

Franziska Giffey im Porträt: Die sozialdemokratische Kümmerin und Pragmatikerin

Eine der wichtigsten Botschaften der SPD-Politikerin lautet: Regeln müssen eingehalten werden. Weil ihr Regelbruch vorgeworfen wird, musste sie reagieren.

Was sie jetzt wohl in der Autowerkstatt von Franziska Giffeys Bruder im Ort Briesen zwischen Fürstenwalde und Frankfurt (Oder) zu ihrem Rücktritt sagen? Halten die Menschen vor der Hebebühne und dem Werkzeugschrank die Ministerin in der Affäre um ihre Doktorarbeit noch für glaubwürdig? Oder wächst vielleicht sogar der Respekt für sie? 

Die Berliner Sozialdemokratin hat immer wieder erzählt, wie sie aus dem Mikrokosmos dieses Betriebs in ihrem Heimatort im Osten Brandenburgs erfährt, was Menschen jenseits von Parteitagsbeschlüssen und Medienkommentaren wirklich umtreibt. Worüber sie sich freuen, wenn sie aufs Auto warten, was sie ärgert.

Die akademische Welt und die gut geerdete Kümmerin

Das Image derjenigen, die weiß, wie die Mehrheit der Menschen wirklich tickt, pflegt die 43-jährige Sozialdemokratin seit Jahren. Und das Image der Kümmerin und Pragmatikerin. Mit ideologisch aufgeladenen Großdebatten könne man „Berge von Lebenszeit verschwenden“, hat sie einmal gesagt – und klargemacht, dass sie lieber Probleme angeht.

Es ist eine der Paradoxien von Giffeys Geschichte, dass ausgerechnet sie, die sich immer Mühe gibt, nah bei den Menschen zu sein und ihre Politik wirklich verständlich zu machen, reagieren musste auf Plagiatsvorwürfe gegen ihre Doktorarbeit, die Jahre zurückliegt. Aber auch die Gesetze der – vermeintlich abgehobenen – akademischen Welt sind Gesetze, die viele Jahre nach dem Einreichen einer Doktorarbeit weiter gelten.

Am Mittwochmorgen ahnen die meisten Ministerinnen und Minister nichts, als sie sich im Corona-sicheren Internationalen Konferenzraum im ersten Stock des Kanzleramts zur Kabinettssitzung treffen. Nach dem Tagesordnungspunkt „Verschiedenes“ erteilt die Kanzlerin der Familienministerin das Wort für eine persönliche Stellungnahme. Die erklärt ihren Rücktritt. Begründung: Sie wolle nicht als Getriebene aus dem Amt scheiden.

[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Wenig später geht in den E-Mail-Fächern der Mitarbeiter des Familienministeriums und der Journalisten ihre persönliche Erklärung ein: Die dritte Prüfung ihrer Doktorarbeit laufe noch, aber die Bundesregierung, ihre Partei, die SPD, und die Öffentlichkeit hätten „schon jetzt Anspruch auf Klarheit und Verbindlichkeit“. Und: „Ich bin stolz darauf, was ich in über drei Jahren Regierungsarbeit im Bund erreichen konnte.“ Den Koalitionsvertrag habe sie restlos abgearbeitet.

Das Amt von Franziska Giffey (links) übernimmt bis zur Bildung einer neuen Regierung Justizministerin Christine Lambrecht.
Das Amt von Franziska Giffey (links) übernimmt bis zur Bildung einer neuen Regierung Justizministerin Christine Lambrecht.
© imago images/IPON

In vier Monaten wollte Giffey ihr Amt im Ministerium ohnehin aufgeben, für die SPD kämpft sie als Spitzenkandidatin um das Berliner Rote Rathaus. Die Wahl für das Abgeordnetenhaus fällt auf den gleichen Tag wie die für den Bundestag.

In nationalen Nachrichtensendungen wird sie seltener vorkommen

Giffey muss womöglich Nachteile hinnehmen im Kampf um das Amt der Regierenden Bürgermeisterin. Die große Bundesbühne steht ihr nun nicht mehr zur Verfügung. Auf den guten Sendeplätzen von „Heute“ und „Tagesschau“ wird sie kaum mehr mit Mahnungen zu hören sein, in Zeiten der Pandemie nicht die Kinder und Jugendlichen zu vergessen.

Fast eineinhalb Jahre lang hat die Ministerin immer wieder gedrängt, nicht nur Hilfsprogramme für Wirtschaftsbetriebe aufzulegen und Milliardensummen an Großunternehmen auszugeben, sondern auch Familien zu helfen. Mit Unterstützung der SPD setzte sie tatsächlich Akzente in der Regierungsarbeit.

Am Dienstagmittag, womöglich war die Entscheidung schon gefallen, verschickte ihr Haus eine Bilanz der Corona-Hilfen für seine Schutzbefohlenen. Auf der Liste unter anderem: 6,5 Milliarden Euro für den Kinderbonus von 300 Euro und den „Notfall-Kinderzuschlag“ für Eltern mit geringem Einkommen, die Anhebung des Steuerentlastungsbetrags für Alleinerziehende, Hilfen für die Kinder- und Jugendarbeit, eine Milliarde aus dem Corona-Konjunkturpaket für den Ausbau der Kinderbetreuung.

Auf der Liste steht auch das Corona-Aufholpaket für Kinder und Jugendliche mit einem Volumen von zwei Milliarden Euro, das kürzlich auf den Weg gebracht wurde. Giffey pries es als großen Erfolg, als sie am Dienstag leidenschaftlich wie immer vor dem diesmal virtuell abgehaltenen 17. Deutschen Kinder- und Jugendhilfetag ihre Politik erklärte.

Einen Tag zuvor hatte sie in einem Pressegespräch noch Projekte für eine künftige Familienpolitik wie die Kindergrundsicherung und die Familienarbeitszeit vorgestellt. Auch da klang sie nicht wie eine Politikerin, die ihr Arbeitsgebiet innerlich schon aufgegeben hat.

„Kein Kind zurücklassen“, das war schon Giffeys Motto in Neukölln. Dort stellte sie Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky 2002 als Europa-Beauftragte ein, die für den Bezirk vor allem Geld aus Brüssel einwarb. Nebenbei schrieb sie an jener Doktorarbeit, über die bald geurteilt wird. Sie trat der SPD bei, wurde Stadträtin für Bildung, Schule, Kultur und Sport und nach Buschkowskys Ausscheiden 2015 seine Nachfolgerin. Sie war zuständig für „330.000 Menschen aus 150 Nationen“, wie sie sagte.

In Neukölln nahm sie den Kampf gegen kriminelle Clans auf

An ideologische Gebote hielt sie sich nicht, was ihr schon damals Konflikte mit dem linken Landesverband der Berliner SPD eintrug. Ihr Motto: „Wenn mir 100 Menschen sagen, wir haben ein Problem, dann ist es höchstwahrscheinlich so, dass wir eins haben. Und dann müssen wir uns darum kümmern.“

Das tat sie auch. Sie heuerte Strafgefangene an, um Schulen neu zu streichen, bezahlte private Sicherheitsdienste, um illegale Müllablader auf frischer Tat zu ertappen. Sie verstärkte die Polizeipräsenz, holte einen eigenen Staatsanwalt in den Bezirk, gewann „Stadtteilmütter“ für die Integration migrantischer Familien. Und während viele in der SPD warnten, der Begriff „Clankriminalität“ sei rassistisch, traktierte sie die Geschäfte dieses Milieus mithilfe des Ordnungsrechts.

Auch nach dem Wechsel ins Familienministerium Anfang 2018 hielt sie Regeln hoch. Dem Tagesspiegel sagte sie als Grund: „Weil soziale Gerechtigkeit und Freiheit ohne Regeln nicht funktionieren – weil Leute frustriert werden, wenn sie selber ein Parkticket bekommen, aber der Drogendealer an der Ecke weitermacht.“

Wer Regeln propagiert, wird an ihnen gemessen. Als Giffey im Sommer 2019 ankündigte, im Falle einer Aberkennung des Titels das Ministeramt aufzugeben, schrieb sie, sie habe schon in Neukölln „immer für ein klares Benennen von Problemlagen und eine klare Haltung gestanden. Danach zu handeln, hat mich geleitet. So will ich auch mit dieser Situation umgehen.“ Am Mittwoch hat sie daraus die Konsequenz gezogen.

Zur Startseite