Folgen der Pandemie: Wie sollen die Kinder das je wieder aufholen?
Unter der Pandemie haben Kinder und Jugendliche besonders gelitten. Nun ist eine Menge nachzuholen und zu heilen. Wie kann das gelingen?
Die Pandemie schwächt sich deutlich ab – auch für die junge Generation gibt es Lichtblicke: Vielerorts öffnen Kitas wieder normal, an den Schulen ist der Regelunterricht in Sicht, Freizeitaktivitäten werden zunehmend möglich.
Doch gerade die Kinder und Jugendlichen gehören zu denen, die unter den Einschränkungen während der Lockdowns am meisten gelitten haben, sie mussten zum Schutz der Älteren zurückstecken, kommen selbst beim Impfen aber in der Regel als Letzte dran. Während Profi-Fußballer längst wieder in der Bundesliga kickten, blieben Kitas lange geschlossen. Familien, Bildungseinrichtungen, Experten und Politiker stehen vor der Aufgabe, Versäumtes aufzuholen und Wunden zu heilen.
Wie groß sind die Schäden, die Kinder und Jugendliche davongetragen haben?
Vier von fünf Jugendlichen fühlen sich durch die Pandemie psychisch belastet. Dies berichtete die Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) vergangene Woche bei der Vorstellung des „Deutschen Kinder- und Jugendhilfe-Monitors 2021“. Grundlage der Studie bilden die jüngsten Berichte der Sozial- und Bildungsberichterstattung sowie Studien zu den Auswirkungen der Coronapandemie. „Angst und Unbehagen sind dominante Gefühle in der Coronakrise“, heißt es darin.
Allerdings können auch viele Experten noch nicht absehen, wie viele Kinder und Jugendliche nach dem Ende der Pandemie dauerhaft schlechter dastehen werden als zuvor. „Die seit einem Jahr andauernden Einschränkungen werden die Entwicklungen unserer Kinder stören, sowohl körperlich und motorisch als auch in der Sprachentwicklung“, erwartet Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes. Weil die jungen Menschen eine Entwicklungsphase durchlebten, könne „vieles von dem, was ihnen widerfährt, ihr gesamtes weiteres Leben prägen“.
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Experten rechnen damit, dass jeder vierte Schüler Lernrückstände aufzuholen hat. Die Bildungsökonomin Katharina Spieß vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) fordert eine Bestandsaufnahme der Defizite in Kitas und Schulen.
Die Fachkräfte in diesen Einrichtungen sowie aus der Kinder- und Jugendhilfe müssten dazu beitragen, die Leidtragenden und die Lücken in deren Bildung zu identifizieren. Erst dann könne entschieden werden, wie Kindern und Jugendlichen adäquat geholfen werden kann. „Da gilt es innovativ zu denken und zu handeln – gute Ideen dürfen nicht an bürokratischen Strukturen scheitern“, mahnt Spieß.
Wie muss gerade Jungen und Mädchen aus sozial schwachen Milieus geholfen werden?
In diesem Befund sind sich Experten einig: Die Pandemie hat die Lage von Kindern und Jugendlichen deutlich verschlechtert, die auf Unterstützung angewiesen sind. Wer in Armut oder mit einer Behinderung aufwachse, werde von den Folgen der Pandemie besonders hart getroffen, warnte auch die AGJ vergangene Woche.
Kein Wunder: Eltern mit höherer Bildung arbeiten häufiger im Homeoffice als solche mit anderen Abschlüssen, sie verfügen über größere Wohnungen und können ihren Kindern Laptops für den Digitalunterricht finanzieren. Dagegen ist wegen der Schließung von Einrichtungen die Unterstützung für Kinder weggebrochen, die außer Haus betreut und gefördert werden oder dort auch ein warmes Essen erhalten.
Laut Kinderschutzbund-Chef Hilgers sind Jugendliche besonders schwer getroffen, die in der Corona-Zeit die Schule abschließen und eine Ausbildung anfangen wollen. Auch hier gilt: Kinder aus Elternhäusern mit besseren Einkommen und Bildungsabschlüssen absolvieren viel häufiger als weniger gut situierte Altersgenossen das Abitur oder studieren danach bis zum Universitätsabschluss. Laut der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendhilfe werden 100000 junge Menschen ohne Schulabschluss und mit entsprechend geringen Qualifizierungschancen aus den beiden Abschlussjahrgängen hervorgehen.
Die Chancen leistungsschwächerer Schüler auf dem Ausbildungsmarkt seien „erheblich gemindert“, warnt Hilgers. Insbesondere die Branchen, die oft nicht zwingend ein super Zeugnis verlangen, steckten gerade in der Krise und hätten ihr Ausbildungsangebot deutlich reduziert – etwa die Gastronomie, der Einzelhandel oder das Friseurgewerbe. Hilgers’ Forderung: ein Ausbildungsgipfel von Politik und Wirtschaft – „am besten, bevor das Schuljahr im Sommer zu Ende ist“.
Kinder- und Jugendpsychologin Michaela Willhauck-Fojkar setzt sich für differenzierte Förderung von Kindern mit unterschiedlichen Bedürfnissen ein. „Es gab schon vorher Kinder, die sich schwertaten mit der Schule – etwa, weil in den Familien die Sprachkompetenzen fehlten oder sie aus anderen Gründen nicht bei den Hausaufgaben helfen konnten.
Diese Kinder werden jetzt in der Pandemie vermutlich auch Nachhilfeangebote brauchen.“ Bei den Kindern, die Unterstützung aus der Familie bekommen, werde das wohl nicht notwendig sein, sagt Willhauck-Fojkar. Bei denen müssten die Softskills gefördert werden: „Auf diesen Bereich wird vergleichsweise wenig geguckt, weil das Schulmodell und die Lösungsansätze in der Pandemie sehr leistungsorientiert sind.“ Gerade bei außerschulischen Aktivitäten könnten Kinder Fähigkeiten entwickeln, die Defizite in Schulfächern wie Mathe oder Deutsch ausgleichen können.
Was muss die Politik tun – kann es Geld allein richten?
Das kürzlich vom Kabinett verabschiedete Aufholprogramm mit einem Volumen von zwei Milliarden Euro steht auf zwei Säulen: Mit rund einer Milliarde Euro sollen Nachhilfe- und Förderprogramme für Schüler in den Bundesländern unterstützt werden. Die Länder sollen damit bestehende Programme ausbauen können, etwa Sommercamps und Nachhilfekurse während des Schuljahrs. Die Kurse könnten von Stiftungen, Vereinen, Initiativen, Volkshochschulen, pensionierten Lehrkräfte, Lehramtsstudenten und auch kommerziellen Nachhilfeanbietern übernommen werden.
Eine weitere Milliarde ist für die Aufstockung verschiedener sozialer Programme vorgesehen, um die sozialen und psychischen Krisenfolgen für Kinder und Jugendliche abzufedern. Geplant ist unter anderem eine Einmalzahlung von 100 Euro für Kinder aus Familien, die auf Hartz IV angewiesen sind oder nur ein sehr geringes Einkommen haben. Das Geld soll je nach Bedarf für Ferien-, Sport- und Freizeitaktivitäten eingesetzt werden können.
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Das Zwei-Milliarden- Euro-Aufholprogramm sei „ein Schritt in die richtige Richtung“, sagt die AGJ-Vorsitzende Karin Böllert, reiche aber nicht. Ihr Argument: „Die Lufthansa war uns neun Millionen Euro wert.“ Kredite, die zur Stabilisierung der Wirtschaft angeboten werden, seien „sehr viel großzügiger verteilt“ worden als die Hilfen für Kinder und Jugendliche. Diese Diskrepanz werfe „kein gutes Licht auf unsere Gesellschaft“.
SPD-Chefin Saskia Esken appellierte am Montag an Städte und Gemeinden, ihren Beitrag zur Unterstützung von Kindern und Jugendlichen zu leisten. „Das Aufholpaket kann nur in den Kommunen realisiert werden“, sagte sie. Die SPD-Politikern forderte die Kommunen auf, das Gespräch mit jungen Menschen zu suchen, mit ihnen zu klären, wo diese die größten Defizite sehen, und ihre Angebote daraufhin anzupassen.
Gibt es spezielle Projekte, die sich pandemiebedingten Defiziten widmen?
Im Aufholpaket der Regierung ist auch mehr Geld für Sprachförderung an Kitas in sogenannten sozialen Brennpunkten vorgesehen, weil viele Kinder die Einrichtungen nicht besuchen konnten. Geplant ist auch eine stärkere Förderung von Schulsozialarbeit, Freizeitangeboten und kostengünstigen Ferienfahrten. Dafür hatten sich vor allem die SPD und Familienministerin Franziska Giffey eingesetzt.
Am Dienstag beginnt der mehrtägige 17. Deutsche Kinder- und Jugendhilfetag, der sich auch den Folgen der Pandemie für seine Klientel widmen will. Zum Ausgleich für benachteiligte Kinder und Jugendliche fordert AGJ-Chefin Böllert Urlaubsgutscheine für Familien mit geringem Einkommen und fünf Urlaubstage zusätzlich für alle Kinder und Jugendlichen. Zur Finanzierung fordert die AGJ einen staatlichen Sonderfonds.
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Aber nicht alle Experten setzen auf mehr freie Tage. Kinderschutzbund-Chef Hilgers etwa spricht sich dafür aus, einen Teil der Ferien für „Sommerschule“ zu nutzen, in der Versäumtes nachgeholt werden soll. Die Lehrer mahnt er in diesem Zusammenhang, sie hätten nur so viele Ferientage wie andere öffentliche Angestellte auch. Sie sollten deshalb einen Teil der Ferien nutzen, um die Kinder im Lernstoff wieder auf den Stand zu bringen.
Was können Eltern tun, um ihre Kinder zu fördern?
Bernhard Juchniewicz, Präsident des Berufsverbands deutscher Diplom-Pädagogen, hat praktische Tipps für Eltern, um Kindern in diesen Zeiten das Lernen zu erleichtern. Neben einem ungestörten Arbeitsplatz und einer ruhigen Atmosphäre – die, je nach Bedürfnissen, auch durch entspannende Musik geschaffen werden kann – sei es wichtig, den Kindern zu vermitteln, dass sie Fehler machen dürften. „Das Kind muss wissen, dass es geliebt wird und keine Strafen fürchten muss, wenn es Aufgaben nicht auf Anhieb versteht“, sagt Juchniewicz.
Wenn Eltern merken sollten, dass sie mit der Betreuung ihrer Kinder und mit dem Homeschooling überfordert sind, sollten sie erwägen, sich an einen Vertrauenslehrer zu wenden. „Die Eltern müssen ehrlich zu sich selbst sein.“ Ein Schritt könne auch sein, sich an den Elternrat zu wenden und mit den Lehrerinnen und Lehrern gemeinsam Probleme wie Überforderung oder Wissenslücken anzugehen.
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