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Martin Hikel (SPD), Bezirksbürgermeister von Neukölln.
© dpa

Berlin-Neuköllns Bürgermeister zum Umgang mit Clans: „Es ist nicht rassistisch, Kriminalität zu bekämpfen“

Neuköllns SPD-Bezirksbürgermeister Martin Hikel will gegen Clankriminalität härter durchgreifen und jungen Menschen alternative Wege zeigen. Er kritisiert eine falsche Toleranz seiner Partei.

Martin Hikel (34) ist Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln. Er ist seit 2018 im Amt.

Herr Hikel, Mitte November haben 1600 Polizisten bei einer Razzia gegen den Remmo-Clan in Neukölln Spuren zu den gestohlenen Juwelen aus dem Grünen Gewölbe in Dresden gesucht. Sie haben danach gesagt, Clankriminalität sei viele Jahre nicht ernst genommen worden. Was wurde nicht ernst genommen??
Die teuflische Mischung, die sich über 40 Jahre zusammengebraut hat. Wenn wir über die Mhallamiye-Kurden sprechen, dann reden wir über Menschen, die vor allem in den 1980er Jahren nach Deutschland, nach Berlin gekommen sind. Sie haben eine lange Geschichte, die in archaische, patriarchale Strukturen in der Türkei zurückreicht, die von Verfolgung handelt und von Duldung – und die manche eben auch in die organisierte Kriminalität geführt hat.

Das alles hat man über Jahre nicht ernst genommen. Stattdessen wurde – nicht nur in Berlin übrigens – vieles als Kleinkriminalität abgetan, was sich zusammengenommen bis heute zu einer Struktur der organisierten Kriminalität entwickeln konnte.

Weshalb hat man die Strukturen unterschätzt?
Ich denke an zwei Dinge. Einerseits hat man geflüchtete Menschen plötzlich in Berlin gehabt, die man nicht zurückschicken konnte, um die man sich ansonsten aber auch nicht gekümmert hat. Den Eltern und den Kindern hat man eine befristete Duldung in die Hand gedrückt und sich lange nicht drum geschert, ob die Kinder zur Schule kommen oder nicht.

Sie wurden allein gelassen.
Wenn jemand in Berlin geboren wird, aber jedes Jahr bei der Ausländerbehörde anstehen muss, um seine Duldungsverlängerung abzuholen und auch deswegen keinen Ausbildungsvertrag bekommt, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn solche Menschen auf den Rechtsstaat pfeifen. Das ist keinerlei Entschuldigung für individuelles Fehlverhalten – aber das war lange gelebte Realität, auch in Berlin. Andererseits hat die gesellschaftliche Linke viel zu lange aus falsch verstandener Toleranz zugeschaut. Mir ist schnuppe, ob jemand im Libanon, der Türkei, in Wanne-Eickel oder in Steglitz geboren ist. Wer auf diesen Rechtsstaat pfeift, kriegt es mit dem Rechtsstaat zu tun. Punkt.

Immer wieder finden Razzien gegen die Clankriminalität in dem Bezirk im Berliner Süden statt.
Immer wieder finden Razzien gegen die Clankriminalität in dem Bezirk im Berliner Süden statt.
© dpa

Das heißt, für diese Linke war Ideologie wichtiger als die triste Realität?
Ich kann mir doch als Linker nicht rauspicken, welche Teile vom Grundgesetz mir besonders schmecken und welche weniger. Es ist nicht rassistisch, Kriminalität zu bekämpfen, im Gegenteil: Diese Haltung hat dazu geführt, dass rassistische Vorurteile gegen Menschen aus der Türkei, aus dem Libanon stigmatisiert worden sind und immer noch werden. Ein paar Hundert sind kriminell, Zehntausende sind es nicht. Aber die Zehntausenden werden in Sippenhaft genommen. Das mag niemand so gewollt haben in den letzten 20 Jahren, aber es ist Fakt.

Warnungen gibt es seit Jahren. Ihr Parteikollege Tom Schreiber hatte jahrelang härtere Maßnahmen gefordert. Neuköllns früherer Bürgermeister Heinz Buschkowsky sowieso. Da dürfen Sie sich nicht wundern, dass Ihnen, wie Sie selbst sagen, einiges auf die Füße fällt.
Wissen Sie, Heinz Buschkowsky wurde als Rassist beschimpft, weil er die Bußgelder für das Schulschwänzen ernst genommen hat. Er wollte, dass die Kinder in die Schule gehen und es der Mehrheitsgesellschaft nicht mehr egal ist, was mit diesen geduldeten Kindern und Jugendlichen in Neukölln passiert. Er hat nicht „Ausländer raus“ geschrieben, sondern „Alle rein in die Schule“, Sozialkompetenz und Mathe und Selbstermächtigung lernen. Und dafür wurde er – auch in der eigenen Partei – ausgebuht.

Haben Sie den Eindruck, dass in Ihrer Partei jene Leute, die das Problem kleingeredet haben, ihre Meinung geändert haben?
An vielen Stellen ja. Aber wir müssen weiter darüber diskutieren, was die Ursachen für Rassismus sind in unserer Gesellschaft.

Aber beim jüngsten Parteitag der SPD lehnte die AG Migration und Vielfalt den Begriff Clankriminalität als „rassistisch konnotiert“ ab. Siegte da wieder die Ideologie über die Realität?
Die Debatte zeigt ja nur, dass es einen Diskurs gibt. Ich habe einen Änderungsantrag dazu formuliert, der so auch vom Landesparteitag beschlossen wurde. Und ja, dieser Antrag entstammt der Realität. Nämlich jener Realität, dass Gewerbetreibende auch aus rassistischen oder antisemitischen Motiven heraus angegriffen werden in unserer Stadt.

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Ich habe jüngst eine Konditorei auf der Sonnenallee besucht, die von engagierten syrischen Geflüchteten betrieben wird und mittlerweile zu den besten der Stadt zählt. Schon mehrfach wurden ihre Fensterschreiben mit Nazi-Symbolen beschmiert. Diese Menschen brauchen und haben den Schutz des Rechtsstaats. Ein Rechtsstaat sieht keine Sonderregeln vor, sonst wird er willkürlich. Und deshalb warne ich davor, sich die Realität so zurechtzubiegen, bis sie einem passt – auch in meiner Partei.

Wie wollen Sie in Neukölln jetzt vorgehen? Welche Maßnahmen können Sie ergreifen?
Ich will einerseits junge Menschen empowern. Es ist nicht attraktiv, kriminell zu werden – aber dafür muss ich jungen Menschen Alternativen aufzeigen. Das fängt mit frühem Kitabesuch an, ich brauche gutes und engagiertes Schulpersonal, gut ausgestattete Schulen, Ausbildungsperspektiven für alle. Wir brauchen dafür auch mehr positiv besetzte Vorbilder.

Neukölln Bezirksbürgermeister Hikel will vor allem mehr Bildungsangebote für Kinder aus Clan-Familien schaffen.
Neukölln Bezirksbürgermeister Hikel will vor allem mehr Bildungsangebote für Kinder aus Clan-Familien schaffen.
© Britta Pedersen/dpa

Es gilt es, mit allen Mitteln deutlich zu machen, dass sich Kriminalität nicht lohnt. Unsere Strategie der Nadelstiche im kriminellen Clanmilieu, die wir in enger Zusammenarbeit zwischen Ordnungsamt, Polizei und anderen Behörden seit geraumer Zeit fahren, führen wir fort und sehen auch schon erste Erfolge.

Die Polizei macht ihrerseits deutlich, dass der Rechtsstaat stärker ist als ein paar Möchtegern-Machos – die Razzia vor zwei Wochen ist ein gutes Beispiel dafür. Aber ich mache mir nichts vor, wir brauchen Jahre, um diese organisierten Kriminalität zurückzudrängen.

An Schulen wird in Projekten schon lange über falsche Wertvorstellungen geredet. Gleichzeitig gibt es viele muslimische Schüler, die homophobe, antisemitische oder frauenverachtende Ansichten verbreiten. Was also muss ich jetzt ändern?
Wir müssen früher anfangen. Ich fordere nicht ohne Grund schon lange eine Kita-Pflicht, damit wir Kinder früh erreichen und die demokratische Wertevermittlung früher beginnt. Und an den Schulen haben wir viele demokratiefördernde Projekte, die definitiv noch ausbaufähig sind, die auch stärker in den Unterricht integriert werden müssen und nicht nur ein, zwei Tage pro Schuljahr am Nachmittag angeboten werden.

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Auch hier brauchen wir mehr positiv besetzte Rollenbilder, bei Lehrkräften, in Projekten, bei der Schulsozialarbeit. Wichtig ist mir, dass keine Lehrkraft Angst haben muss, für demokratische Werte einzustehen. Wer als Lehrkraft an der Schule Drohungen hört, muss sich sicher sein, dass das ganze System hinter der Lehrkraft steht. Niemand ist allein.

Die fundamentalistischen Vorstellungen bringen Minderjährige zum Teil aus Moscheen mit. Wollen Sie deren Einfluss begrenzen, und wenn ja wie?
Wir fordern seit 2015 ein Verbot der salafistischen Al-Nur-Moschee, das wird durch die zuständigen Behörden auch geprüft. Das ist natürlich vereinzelt ein Lösungsweg, aber nur Verbote bringen uns ja nicht weiter. Wir müssen mehr noch mehr kulturelle Alternativangebote schaffen, auch für Frauen etwa, die ansonsten nur im Umfeld radikaler Moscheen unterwegs sind. Besonders an Schulen halte ich einen ideologiefreien Religionsunterricht für notwendig.

Und dafür muss der Staat Imame ausbilden. Bislang überlassen wir es eher der türkischen Staatsdoktrin oder fundamentalistischen arabischen Regierungen, die dann ihre Imame nach Deutschland schicken. Das kann kein Weg sein.

Der langjährige Schulpsychologe Klaus Seifried sagt, Moscheen würden jene Angebote machen, die Kinder und Jugendliche mangels Jugendzentren sonst nicht bekommen. Braucht Neukölln mehr Jugendzentren?
Neukölln ist gut aufgestellt bei den Jugendzentren. Wir haben unglaublich viele engagierte Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die im besten Sinne positive Rollenbilder für Jugendliche sind. In einzelnen Teilen des Bezirks gibt es noch Lücken, etwa in Buckow, aber da sind wir dran.

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Der Bezirk gibt sehr viel Geld für Einzelfallbetreuung oder andere Betreuung auffälliger Kinder aus. Wäre es nicht viel billiger, Jugendzentren anzubieten?
Das eine hat nicht unbedingt etwas mit dem anderen zu tun. Ich muss Kinder oft schon in jungen Jahren betreuen, etwa weil die Familie das nicht selbstständig leisten kann. Da kann ich nicht warten, bis das Kind alt genug ist, um selbstständig in den Jugendclub zu gehen oder von einem Streetworker angesprochen zu werden.

Bei vielen Kindern sprechen wir über multiple Problemlagen, die brauchen eine intensive und individuelle Betreuung, und da brauchen die Sozialarbeiter auch Einblick in die Familien und das Umfeld. Das können und sollen Jugendclubs nicht ersetzen. Trotzdem: Natürlich müssen wir ständig schauen, ob unsere Angebote dem Bedarf entsprechen.

Es ist schwierig, Kinder, die selbst schon kriminell sind, aus kriminellen Familien herauszuholen. Müssen Familiengerichte da umdenken? Oder sogar der Gesetzgeber?
Ich glaube, diese Diskussion ist ein Irrweg. Wer kriminell ist, muss bestraft werden, Punkt. Wichtig ist, dass das so schnell wie möglich passiert, aber die Berliner Justiz ist gnadenlos überlastet. Ich will aber noch mehr dafür sorgen, dass Kinder gar nicht erst kriminell werden. Menschen damit zu drohen, dass ihnen die Kinder weggenommen werden, führt zu nichts.

Die Jugendhilfe in Deutschland geht seit Jahrzehnten einen anderen Weg – nämlich das System darauf auszulegen, dass Eltern befähigt werden, sich um die Kinder zu kümmern. Eine Inobhutnahme ist nur der allerletzte Weg. Wer jetzt einzelnen Bevölkerungsgruppen damit droht, ihnen die Kinder wegzunehmen, entfremdet diese Menschen nur noch weiter von unserem Wertesystem. Damit kommen wir nicht weiter.

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