Angela Merkel im Interview: "Die Sehnsucht nach einfachen Lösungen ist groß"
Bundeskanzlerin Angela Merkel über die Zukunft Griechenlands, Parallelen zu Ostdeutschland, den Wert Europas und die schicksalhaften Entscheidungen in der Schuldenkrise.
Frau Bundeskanzlerin, Europa bedeutet für die meisten Menschen Brüsseler Bürokratie und das Verbot von Glühbirnen. Was ist Europa für Sie ganz persönlich?
Ich bin nicht so pessimistisch. Die meisten Menschen haben bei Europa durchaus auch das Positive vor Augen. Sie denken daran, dass man in viele Länder mittlerweile ohne Pass und ohne Geldumtausch reisen kann. Junge Menschen studieren wie selbstverständlich im europäischen Ausland und haben dort Freunde. Natürlich gehören die Brüsseler Institutionen dazu, aber vor allem heißt Europa doch Frieden und gemeinsame Überzeugungen. Für mich ist das immer noch ein Begriff, mit dem ich große Zuversicht verbinde.
Das dürfte Sie derzeit von den meisten Deutschen unterscheiden …
Bei allen kulturellen Unterschieden teilen wir 500 Millionen Europäer dieselben Werte, wir haben unsere Staaten auf den Grundsätzen der Freiheit und der Menschenwürde aufgebaut. Für mich ist es eine große Beruhigung, dass wir Deutsche uns in der Welt der Globalisierung nicht alleine behaupten müssen. Denn unter nunmehr sieben Milliarden Menschen können wir Europäer unsere Interessen und Werte doch nur noch in der Gemeinschaft erfolgreich vertreten. Nur wenn wir in Europa zu einer einheitlichen Haltung kommen, haben wir gegenüber 1,3 Milliarden Chinesen oder 300 Millionen Amerikanern eine Stimme, die gehört wird. Ob im internationalen Handel oder beim Klimaschutz oder in Fragen von Krieg und Frieden außerhalb Europas: Die Einheit Europas verleiht uns Kraft. Ohne Europa hat Deutschland keine gute Zukunft.
Einst war Europa eine Frage von Krieg und Frieden. Gilt das heute noch?
Das ist immer noch richtig. Schauen Sie über Europas Grenzen hinaus und Sie sehen, dass sich die Frage auch heute noch konkret stellt. Bei uns in Deutschland und in unseren Nachbarländern leben jetzt Generationen, die glücklicherweise nicht wissen, wie es ist, gegeneinander Krieg zu führen. Deshalb reicht der Verweis auf Krieg und Frieden als einzige Begründung für die Notwendigkeit der europäischen Einigung nicht mehr aus.
Helmut Kohl hat von Ihnen mutigere Schritte in Richtung Europa verlangt. Was sind Sie bereit, für Europa zu wagen?
Für ein starkes Europa bin ich bereit, das Notwendige zu wagen und so das Vernünftige zu tun. Der Euro stellt das Fundament Europas dar. Mit dem Euro als gemeinsamer Währung haben sich 17 europäische Mitgliedsstaaten auf das Engste miteinander verbunden. Dieses Fundament hat sich aber noch nicht als wirklich wetter- und krisenfest erwiesen. Um unsere Währung dauerhaft krisenfest zu machen, müssen wir das Übel nun bei der Wurzel packen – und dieses Übel ist die hohe Verschuldung.
Aber wie?
Wir müssen Schritte zu mehr miteinander und aufeinander abgestimmter Finanz- und Wirtschaftspolitik gehen. Das heißt, jedes Euroland muss sich verpflichten, das auch einzuhalten, was man mit den Partnern verabredet hat. Erste Erfolge kann man schon sehen. Überall in der Euro-Zone wird jetzt über eine nationale Schuldenbremse als Selbstverpflichtung der Parlamente gesprochen. Nun müssen wir in der jetzigen Krise prüfen, wie wir im Rahmen der bestehenden Verträge Kompetenzen in Europa bündeln. Über den Tag hinaus werden wir dann auch überlegen müssen, ob wir die Verträge ändern. Das allerdings wird sehr wohl durchdacht sein müssen, denn die Euro-Zone umfasst 17 Länder, aber alle 27 Mitgliedstaaten der EU müssten das akzeptieren. Die Integration Europas jedenfalls muss vorangetrieben werden.
Was die Kanzlerin über den Lissabonvertrag denkt, lesen Sie auf Seite zwei.
Mit dem Maastricht-Vertrag haben wir schon eine Verabredung – nur hält sich niemand daran.
Das ist wirklich die entscheidende Frage. Es macht ja auch die Verunsicherung der Bevölkerung aus, dass Absprachen über Jahre nicht eingehalten wurden. Dieses Vertrauen wieder aufzubauen, wird sehr lange dauern. Aber wir müssen diesen Prozess rasch beginnen und die Menschen davon überzeugen, dass wir unser Verhalten ändern.
Für viele ist Europa zur Chiffre für unkontrollierte Schuldenmacherei geworden …
Die Rettungsschirme, die wir jetzt zur Bekämpfung der Krise aufspannen müssen, die Milliarden, um die es da geht – das alles hat den Menschen die Augen dafür geöffnet, wie gefährlich die Schuldenpolitik der Vergangenheit war.
Stehen am Ende die Vereinigten Staaten von Europa?
Ich fühle mich vor allem dafür verantwortlich, jetzt konkrete Schritte für eine vertiefte Integration zu gehen. Wie man am Ende eines langen europäischen Prozesses das Entstandene einmal nennen könnte, darüber mache ich mir keine Gedanken.
Wann wird das denn sein?
Klar ist, der Weg geht hin zu mehr europäischer Kompetenz in wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen. Und er geht dahin, dass jene, die die Absprachen nicht einhalten, im Zweifelsfall auch Sanktionen tragen müssen. Für mich liegt die Zukunft in einer politischen Union. Es geht um mehr Integration. Und ich sage bewusst: Auch der Lissabon-Vertrag …
… der unter anderem regelt, dass alle Entscheidungen der Euroländer mehrheitlich getroffen werden müssen …
… ist kein Vertrag, der für die Ewigkeit gemacht wurde. Wenn die Welt sich ändert, muss man auch bereit sein, Verträge zu ändern.
Machen Sie ernst mit Kerneuropa?
Wieder so ein Schlagwort. Es geht um eine vertiefte Zusammenarbeit in Europa, das jetzt zu erreichen, halte ich wirklich für unsere Pflicht.
Werden die Italiener eines Tages über unseren Haushalt mitbestimmen?
Es geht nicht darum, einfach Kompetenzen wegzugeben. Noch einmal: Wir müssen sicherstellen, dass das, was wir uns gemeinsam an Strukturreformen und Sparbemühungen vorgenommen haben, auch eingehalten wird. Das kann nur durch freiwillige Zustimmung der Mitgliedsstaaten und ihrer Parlamente erreicht werden. Und wer sich an die Vereinbarungen hält, der muss sowieso keine Sanktionen befürchten.
Ist der Gedanke ganz abwegig, dass wir mehr Sicherheiten brauchen, damit die Schuldenstaaten ihren Verpflichtungen nachkommen?
Es muss gelingen, härter gegen absprachewidriges Verhalten vorzugehen. Wir sitzen alle in einem Boot. Und jeder muss verstehen, dass einer im Boot ausreicht, alle anderen in Bedrängnis zu bringen, wenn er sich nicht an die Absprachen hält.
Lesen Sie auf Seite drei, wozu Griechenland verpflichtet ist.
Könnte Deutschland im äußersten Fall Garantiezusagen zurücknehmen? Etwa für Griechenland, das offensichtlich seinen Verpflichtungen nicht nachkommt.
Griechenland weiß, dass die Auszahlung der Kredite davon abhängt, dass es seine Auflagen erfüllt. Bei den Garantien, die das Kreditprogramm absichern, dürfen wir nicht übersehen, dass sie ganz wesentlich auf der Erkenntnis beruhen, dass nicht nur Griechenland ein Problem hat, sondern der Euro als Ganzes in Gefahr ist, wenn Griechenland unter Druck kommt. Und deshalb tun wir etwas für uns alle in Europa, indem wir Griechenland Garantien für das Kreditprogramm geben, um unseren Euro stabil zu halten. Es wäre gegen unsere eigenen Interessen, wenn wir diese Garantien zurückzögen und damit die Instabilität des Euro geradezu herbeiführten.
Wie lange kann sich Griechenland unserer Solidarität noch sicher sein?
Das Ganze ist ein Prozess. Was über Jahre versäumt wurde, kann nicht über Nacht behoben werden. Oder denken Sie an den Prozess der deutschen Einheit. Wie lange hat es Anfang der neunziger Jahre gedauert, um neue Verwaltungsstrukturen aufzubauen, Kenntnisse zu vermitteln und zu privatisieren. Das heißt, dass wir Geduld haben müssen.
Fürchtet die CDU-Chefin das Entstehen einer nationalistischen Bewegung?
Wir befinden uns in einem sehr komplizierten politischen Prozess, in dem viele Menschen daran zweifeln, dass das alles ein gutes Ende nehmen wird. In solchen Momenten wird die Sehnsucht nach einfachen kurzen Lösungen groß. Die aber gibt es nicht, sondern nur einen Prozess aufeinanderfolgender Maßnahmen.
Was wollen Sie dagegen tun?
Den Menschen sagen, dass dieser Prozess Zeit braucht. Auch deshalb bin ich gegen Euro-Bonds. Sie erscheinen als einfache Lösung, lösen aber die Probleme nicht, weil sie nicht an deren Ursache ansetzen. Ich verstehe, dass es eine Sehnsucht gibt, das Thema zu beenden. Aber wir müssen jetzt Schritt für Schritt gehen.
Sind Sie Ihrer Koalitionspartner sicher?
Beide Koalitionspartner wissen, dass Europa für uns unverzichtbar ist. Es gibt berechtigte Sorgen über die Entwicklung in einigen Schuldenländern, und diesen Sorgen müssen wir begegnen.
Ist die Euro-Rettung für diese bürgerliche Regierung eine Schicksalsaufgabe?
Es ist ein zentrales Thema dieser Legislaturperiode. Die großen europäischen Entscheidungen haben immer schicksalhafte Züge. Also müssen wir es richtig machen.
Setzen Sie bei der Abstimmungen über den Euro-Rettungsschirm auf die Kanzlermehrheit, um die Handlungsfähigkeit der Koalition unter Beweis zu stellen?
Ich bin, wie schon oft gesagt, zuversichtlich, die Fraktionen von Union und FDP von der Haltung der Bundesregierung zu überzeugen.
Das Gespräch führten Stephan-Andreas Casdorff, Robert Birnbaum und Antje Sirletschtov.
Stephan-Andreas Casdorff, Antje Sirleschtov, Robert Birnbaum