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Die Dschihadisten, hier ein Propaganda-Archivbild, sind im Nahen Osten wieder auf dem Vormarsch.
© imago/Zuma Press

"Wie ein Krebsgeschwür": Die Terrororganisation IS breitet sich in Syrien wieder aus

Langsam und methodisch: Warum der „Islamische Staat“ im Irak und Syrien wieder an Schlagkraft gewinnt.

Gut ein Jahr nach der Zerstörung seines „Kalifats“ gewinnt der „Islamische Staat“ wieder an Stärke. So töteten Bewaffnete IS-Kämpfer in Syrien diese Woche bei einem Angriff drei Regierungssoldaten, teilte die Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit. Vor wenigen Wochen tauchten IS-Trupps nördlich der irakischen Hauptstadt Bagdad auf und töteten mindestens zehn Kämpfer einer schiitischen Miliz.

Das zeigt: In mehreren Gegenden von Irak und Syrien sind die „Gotteskrieger“ wieder auf dem Vormarsch. Im vergangenen Monat reklamierten sie 100 Attacken für sich. „Langsam und methodisch“ gehe die Terrormiliz bei ihrer Rückkehr vor, sagt IS-Experte Charles Lister. Die Islamisten profitieren vor allem von der Schwäche ihrer Gegner. „Wir können uns keine Pause erlauben“, sagte US-Außenminister Mike Pompeo kürzlich über den Kampf gegen den IS.

Als die Extremisten im März vergangenen Jahres den letzten Rest ihres „Kalifats“ im syrisch-irakischen Grenzgebiet nach einer Offensive der US-geführten internationalen Anti-IS-Koalition aufgeben mussten, galt die Terrortruppe als militärisch besiegt. Die Dschihadisten hatten das gesamte Gebiet verloren, das sie 2014 und 2015 erobert hatten.

Doch der IS überlebte auch ohne ein geografisch definiertes Herrschaftsgebiet. Seine Kämpfer zogen sich in die Wüstenregion Badia zurück. Einen Teil seiner millionenschweren Kriegskasse hat der IS ebenfalls retten können. Sogar den Tod ihres Anführers Abubakr al Bagdadi bei einem US-Angriff überstand die Organisation – Amerikas Geheimdienste haben den früheren irakischen Armeeoffizier Amir Mohammed Abdul Rahman al Mawli als neuen Chef der Terrormiliz identifiziert.

Vor allem die Wüste Badia ist ein idealer Rückzugsraum für den IS. Das riesige Gebiet von einer halben Million Quadratkilometern ist dünn besiedelt und reicht vom Süden Syriens bis zum Euphrat im Irak. Die syrische Regierung habe versucht, den „Islamischen Staat“ an einem Ausbruch aus der Wüste zu hindern, schreibt Lister, Terrorismus-Fachmann beim Nahost-Institut in Washington, in einer Analyse.

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Dieser Versuch sei gescheitert, weil die Armee von Präsident Baschar al Assad nicht genügend Soldaten und andere Prioritäten habe: Der Machthaber versucht derzeit, die Rebellenhochburg Idlib im Nordwesten Syriens zu erobern. Das besitzt für den Herrscher in Damaskus Priorität.

Die Folge: Der IS breite sich aus „wie Krebs“, wie es SDF-Vertreter beschreiben. Die mit den USA verbündeten Milizen-Allianz unter kurdischer Führung kündigte jetzt eine Offensive gegen die Terrorbande in Syrien an.

Iraks Sicherheitskräfte sind derzeit damit beschäftigt, die Corona-Auflagen durchzusetzen.
Iraks Sicherheitskräfte sind derzeit damit beschäftigt, die Corona-Auflagen durchzusetzen.
© Ahmad al Rubaye/AFP

Die hilfreiche Pandemie

Der „Islamische Staat“ geht bei seinem Comeback systematisch vor. So greifen die Dschihadisten im Irak häufig in der Nähe von Fernstraßen an, die sie anschließend für den Schmuggel oder zur Erpressung von „Mautgebühren“ nutzen. Drei Millionen Euro im Monat nehme der IS damit ein, meldete die US-Denkfabrik CGP.

Die Pandemie ist einer der Gründe dafür, dass die sunnitischen Fundamentalisten bei ihrer Offensive so viel Spielraum haben. Im Irak reduzierten die Sicherheitsbehörden ihre Präsenz in den Krisenregionen, weil viele Soldaten die Ausgangssperren und andere Pandemie-Vorgaben überwachen müssen.

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In einigen Landesteilen gebe es überhaupt keine Sicherheitskräfte mehr, sagte der irakische Terror-Experte Huscham Alhaschimi kürzlich dem US-Sender VOA. Der „Islamische Staat“ sei in einigen Regionen des Landes deshalb „tödlicher als Covid-19“.

Auch die westliche Hilfe für den militärischen Kampf gegen den IS leidet unter der Pandemie. So unterbrach die Bundeswehr die Ausbildung irakischer Soldaten nördlich von Bagdad. Großbritannien und Frankreich taten dies ebenfalls.

Donald Trump will die US-Army zu großen Teilen aus Syrien abziehen.
Donald Trump will die US-Army zu großen Teilen aus Syrien abziehen.
© Safin Hamed/AFP

Der Rückzug der Amerikaner

Schwerer wiegt, dass die US-Armee nur noch eingeschränkt helfen kann. Washington will die amerikanischen Soldaten im Irak auf nur noch zwei Stützpunkten konzentrieren. Aus Syrien sollen sich auf Befehl von Präsident Donald Trump alle 2000 US-Soldaten zurückziehen.

Zwar unterstützt die amerikanische Luftwaffe nach wie vor die kurdisch dominierte SDF in ihren Einsätzen gegen den „Islamischen Staat“. Aber die Kurden müssen sich im Nordosten Syriens zugleich mit der türkischen Armee auseinandersetzen, die im vergangenen Herbst in die Region einmarschierte.

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Ein weiteres Problem für die SDF ist die Bewachung der IS-Häftlinge in mehreren Gefangenenlagern in ihrem Machtbereich im Osten Syriens. Die kurdischen Kämpfer, die rund 10.000 Dschihadisten und zehntausende Familienangehörige der Extremisten bewachen, beklagen schon lange, dass sie mit der schwierigen Aufgabe allein gelassen werden. Ein US-Regierungsbericht kam vor wenigen Wochen zu dem Schluss, dass in den Lagern ein „hohes Risiko von Massenausbrüchen“ bestehe.

Die Schwäche der Iraner

Zupass kommt den sunnitischen Extremisten vor allem die Kraftlosigkeit eines ihrer Todfeinde. Jahrelang war der Iran mit seinen schiitischen Milizen ein ebenso entschlossener wie effektiver Gegner der Dschihadisten im Irak. Dort wurden Kampfverbände eigens aufgestellt und von Teheran für den Einsatz trainiert.

Unter dem Dach der „Volksmobilisierungseinheiten“ vertrieben die paramilitärischen Kräfte den IS. Nur können sich die Mullahs die Finanzierung der Truppen kaum noch leisten. Die Islamische Republik leidet unter einer schweren Wirtschaftskrise, die von der Pandemie drastisch verschärft wird. Viele Iraner machen ihrem Unmut darüber Luft, dass Millionen für den außenpolitischen Expansionsdrang aufgebracht werden statt das Geld dem eigenen Volk zu geben.

Qassem Soleimani, Chef der iranischen Al-Quds-Brigaden, bekämpfte mit schiitischen Milizen den IS. Die USA töteten den General per Drohnenangriff.
Qassem Soleimani, Chef der iranischen Al-Quds-Brigaden, bekämpfte mit schiitischen Milizen den IS. Die USA töteten den General per Drohnenangriff.
© picture alliance /dpa

Hinzu kommt: Die USA haben den strategischen Kopf hinter Irans Anti-IS-Kampf ausgeschaltet. Qassem Soleimani, Chef der auf Auslandseinsätze spezialisierten Al-Quds-Brigaden, dirigierte als militärischer Oberbefehlshaber die schiitischen Milizen bei ihrem Vorgehen gegen den „Islamischen Staat“.

Und das mit großem Erfolg. Zeitweise kooperierte er dabei sogar mit den USA. Was die Trump-Administration dennoch nicht davon abhielt, ihn zum Feind zu erklären und im Zuge der eskalierenden Konfrontation mit Teheran im Januar mithilfe eines Drohnenangriffs zu töten.

Die Agonie des Staates

Was der IS sich schon bei seinem Aufstieg zur Regionalmacht zunutze machen konnte, hat an Relevanz nichts verloren: Wo staatliche Strukturen fehlen und ein (Sicherheits)Vakuum entstehen lassen, sind die „Gotteskrieger“ geübt darin, die Leerstelle mit Angst verbreitender Gewalt zu füllen. Das gilt für Teile Syriens und Iraks gleichermaßen. Von politischer Stabilität sind diese Regionen weit entfernt. Gerade der Irak, wo einst der IS entstand, ist zutiefst gespalten.

Über Monate hinweg gab es keine funktionierende Regierung. Verschiedene politische Gruppen arbeiten oft gegeneinander, fühlen sich nur ihren eigenen Interessen verpflichtet. Hinzu kommen konfessionelle Spannungen. Die Minderheit der Sunniten fühlt sich von der Mehrheit der Schiiten unterdrückt. Der IS versteht es, diesen Graben weiter aufzureißen. Auch die weitverbreitete Korruption und Vetternwirtschaft spielen den Terroristen in die Hände.

Trotz offenkundiger Unzulänglichkeiten demonstriert Iraks neuer Regierungschef Mustafa al Kadhimi Entschlossenheit. „Ich sage dem IS: Erwartet uns, die Stunde des Kampfes ist nahe.“ Es scheint, dass diese Stunde längst begonnen hat.

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