Die Grünen nach der Wahl: Die möglichen Karrieren des Duos Baerbock und Habeck
Ihr Ziel vom Kanzleramt werden die Grünen wohl verfehlen, die Gründe sind vielschichtig. Je nach Wahlergebnis werden die Rollen in der Partei neu verteilt.
Annalena Baerbock möchte erst einmal nicht als Kanzlerkandidatin sprechen. Wahlparteitag der Grünen in einer alten Fabrikhalle im Osten Berlins, eine Woche vor dem Wahltag. Eben hat mit Winfried Kretschmann der beliebteste Landesvater der Republik den Einheizer für die Kanzlerkandidatin gegeben. In eine Reihe mit Konrad Adenauer, Willy Brandt und Helmut Kohl hat der baden-württembergische Ministerpräsident Baerbock gestellt. Die tritt nun ans Pult. Vor ihr rund 100 Delegierte und die versammelte Hauptstadtpresse. Ein TV-Sender überträgt live, endlich wieder die ungeteilte Aufmerksamkeit. Doch statt ans Wahlvolk wendet sich Baerbock an ihre Partei.
Es ist nur eine kleine Szene und doch sagt sie viel über eine Kandidatin, die in den vergangenen sechs Monaten eine politische Achterbahnfahrt hingelegt hat und sich dabei viel zu häufig mit sich selbst und ihrer Partei beschäftigen musste. Nach ihrer historischen Kanzlerkandidatur kratzten die Grünen in Umfragen rasch an den 30 Prozent, das Kanzleramt schien greifbar. Doch dann reihte sich Fehlerchen an Fehlerchen. Nebeneinkünfte, Lebenslauf, Buch. Die Stimmung kippte, die Umfragen auch.
Inzwischen hängt die Öko-Partei abgeschlagen hinter SPD und CDU/CSU, im Duell um die Kanzlerschaft zwischen Armin Laschet (CDU) und Olaf Scholz (SPD) könnten die Grünen auf den letzten Metern noch empfindlich Stimmen verlieren. Auch medial fallen die Grünen und Baerbock immer häufiger unter den Tisch. Wäre die Situation bei der Union nicht noch viel dramatischer, Aufstieg und Absturz der Grünen wären wohl die Geschichte dieses Wahlkampfes.
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Wenn man sich in diesen Tagen in der Partei nach den Gründen dafür umhört, erlebt man viel Wagenburg-Mentalität. Schuld tragen vor allem die anderen. Die politische Konkurrenz, die Scheindebatten im Wahlkampf geführt habe. Statt übers Klima, habe die Union immer nur über Kosten gesprochen. Scholz spreche viel und sage dabei nichts, hört man als Vorwurf an den SPD-Kanzlerkandidaten.
Selbst Trump-Vergleiche werden gezogen
Im Netz würden gezielt Lügen und Kampagnen gegen Baerbock und die Grünen verbreitet. Kritik an der Kanzlerkandidatin wird mitunter als sexistisch empfunden. Selbst Trump-Vergleiche hört man immer wieder. Und dann die Medien, die groß über die kleinen Verfehlungen von Baerbock berichtet hätten, aber nur oberflächlich über Scholz‘ Verantwortung bei Wirecard und der Warburg-Bank. Auch über die Masken-Affäre der Union und ihre Aserbaidschan-Connection lese man nichts mehr.
Das mag alles stimmen und ist doch nur ein Teil des Problems. Die vielen Ausflüchte versperren den Blick auf die eigenen Fehler – nicht nur die vermeidbaren um Annalena Baerbock. Die 40-Jährige hat in den vergangenen Wochen gekämpft. In den Triellen wirkte sie wach, angriffslustig und faktensicher. Auch ihr Auftreten auf den vielen Marktplätzen in Deutschland – 14.000 Kilometer ist sie in vergangenen sechs Wochen durch die Republik getourt – ist sicherer geworden. Bei einem Auftritt in Potsdam am Donnerstag leistet sie sich nur noch wenige Versprecher. Die Hand zur Faust geballt, die Rede deutlich länger als noch zum Tourauftakt im Ruhrgebiet.
Ob sie beim Säen einer Blumenwiese helfen könne, wird sie gefragt
Vor allem bei Kindern kommt sie an. Drei dürfen nach der Rede in Potsdam Fragen stellen. Ob sie helfen könne, eine Blumenwiese in einer Potsdamer Straße zu säen, wird sie vom elfjährigen Felix gefragt. Matthis will wissen, wie seine Schule digitaler werden könne und ein kleines Mädchen fragt, wie sie denn nun die Welt besser machen möchte.
Klingt süß, bringt Baerbock aber wenig, denn die Kinder dürften selbst mit einem Wahlrecht ab 16 Jahren noch lange nicht wählen. Im Wahlkampf hat sich die zweifache Mutter immer wieder intensiv für Kinder und Familien eingesetzt. Widerspruch bekommt sie dafür wenig, doch besonders viel gewinnen kann sie auch nicht. „Sie muss rüberkommen wie eine Kanzlerin, der das ganze Land am Herzen liegt, nicht nur die Grünen-Wähler hatte eine Spitzengrüne schon vor dem ersten Triell gemahnt.
„Veränderung wird durch Mut gemacht“, ist einer der Satzbausteine, der in fast jeder Rede von Baerbock auftaucht. Für sich selbst beherzigt sie das viel zu selten. Nach den vielen Rückschlägen wirkte es in den vergangenen Wochen häufig, als wolle die Kanzlerkandidatin bloß nicht anecken. Als in Kabul Tausende Afghanen aus Angst um ihr Leben vor den Taliban an den Flughafen flohen, zögerte die Grünen-Politikerin. Eine „fünfstellige Zahl“ an Afghanen müsse Deutschland aufnehmen. Später verbreitete ihr Umfeld die Zahl 10.000 – die kleinstmögliche fünfstellige Zahl.
Der Wahlkampf der Grünen wirkt mitunter mutlos
Auch in der Klimadebatte trat Baerbock mitunter mutlos auf. Der Kampf gegen den Klimawandel werde nicht zu mehr Belastungen für den Einzelnen führen, sagte sie – wie ihre beiden Mitbewerber von SPD und CDU – im ersten Triell. Das Kalkül dahinter offensichtlich, nur keine Debatten wie um den Benzinpreis, teureres Fleisch oder höhere Flugkosten. Sich hinzustellen und zu sagen, warum Fleisch und Fliegen teurer werden muss und warum das richtig ist – dazu kann sich Baerbock nicht durchringen.
Strategisch hat ihre Partei zudem offensichtlich nicht erkannt, dass sich die Deutschen in Jahr zwei der Pandemie und der Klimakrise vor der Tür einen starken und erfahrenen Kanzlerkandidaten wünschen. Die Debatten, was ein Kanzlerkandidat Habeck hätte erreichen können, sind müßig. Doch ihn und andere erfahrene Grünen-Unterstützer noch mehr in den Wahlkampf einzubringen, hätte sicherlich nicht geschadet.
So könnte Habeck mit dem Wahlabend wieder an Stärke gewinnen. Zur Berliner Runde wird zwar Annalena Baerbock gehen, doch ihr Co-Chef hat mögliche Koalitionsverhandlungen vorbereitet und hat sich – trotz einiger offensichtlicher Genervtheit – loyal gegenüber Baerbock verhalten. Es gebe keinen Grund mehr für eine innerparteiliche Hierarchie, heißt es aus der Parteizentrale. Primus inter Pares ist Baerbock ab Sonntag nicht mehr. Gerüchte, Habeck könnte nach erfolgreichen Verhandlungen ein erstes Zugriffsrecht auf ein Ministeramt haben, halten sich hartnäckig.
Wie sich das Verhältnis zwischen Baerbock und Habeck entwickelt, dürfte wohl maßgeblich davon abhängen, ob die Grünen bei 19, 17 oder 15 Prozent landen. Schon jetzt wird im Hintergrund die Verteidigungslinie aufgebaut, dass dies ja immerhin das stärkste Bundestagswahl-Ergebnis der Grünen-Geschichte sei. Baerbock könne man da doch keinen Vorwurf machen. Dass womöglich deutlich mehr drin gewesen wäre, wird ignoriert.
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Dass Baerbock über den enttäuschenden Wahlkampf stürzen könnte, gilt als extrem unwahrscheinlich. Anders als Habeck ist sie ein Kind der Partei. Bei Delegiertenversammlungen hatte sie stets bessere Ergebnisse als Habeck, sie telefoniert mehr, ihre Kanzlerkandidatur war von zahlreichen einflussreichen Fraktionsmitgliedern protegiert worden. Und auch jetzt hat sich Baerbock wieder abgesichert. Auf dem Wahlparteitag in der Fabrikhalle in Berlin-Oberschöneweide dankt sie minutenlang einflussreichen Grünen für ihren Einsatz. Claudia Roth, Anton Hofreiter, Katrin Göring Eckhart, Bettina Jarasch. Dazu die Oberbürgermeister und Landesminister der Grünen. Später wird sie noch mit vielen Parteifreunden Selfies machen. Vergessen wird niemand. Die Wahlkampfrede muss warten.
Und dann dankt sie noch einer Frau, bei der sie das nicht tun müsste. Sie sei überall dabei und überall im Einsatz, sagt Baerbock und zeigt auf Aminata Touré. Die Vize-Präsidentin des Landtags in Schleswig-Holstein sitzt in der dritten Reihe. Viele handeln die 28-Jährige jedoch längst für die erste Reihe. Sollte es mit einer Regierungsbeteiligung und Ministerien für Baerbock und Habeck reichen, müssen sie sich gemäß der Parteistatuten nach neuen Vorsitzenden umschauen. Für Dezember ist ein Parteitag angesetzt. Gut möglich, dass Baerbock sich auch hier schon wieder absichert.