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Erneut versammelten sich Zehntausende im Stadtzentrum von Chabarowsk.
© Evgenii Pereverzev/REUTERS

Überraschende Massenproteste in Fernost: „Die ganze Stadt weigert sich, Putins endlose Lügen zu glauben“

Zehntausende Russen demonstrieren in Chabarowsk für einen Gouverneur, der in Untersuchungshaft sitzt. Ihre Wut richtet sich aber auch gegen den Kreml.

Große Proteste in Russlands Regionen sind selten, umso beeindruckender sind die Szenen, die sich derzeit im Fernen Osten abspielen. Am Samstag gingen erneut Zehntausende in Chabarowsk, einer Großstadt mehr als 6000 Kilometer östlich von Moskau an der chinesischen Grenze, auf die Straße.

Zwischen 15.000 und 50.000 sollen es örtlichen Medien zufolge gewesen sein. Schon vor einer Woche zogen Zehntausende durch das Stadtzentrum. Auch in den folgenden Tagen und in anderen Städten der Region demonstrierten Bürger.

Sie protestieren gegen die Verhaftung von Gouverneur Sergej Furgal. Der Politiker der nationalistischen Partei LDPR hatte vor knapp zwei Jahren bei Regionalwahlen den Kandidaten der Kremlpartei Einiges Russland überraschend geschlagen. Jetzt werfen ihm die Behörden vor, mehrere Morde an Geschäftsleuten vor 15 Jahren in Auftrag gegeben zu haben. Furgal sitzt nun in Moskau in Untersuchungshaft. Er bestreitet die Vorwürfe.

Der Protest soll der größte sein, den die Region je erlebt hat. Anhänger des Gouverneurs sehen dessen Verhaftung als politisch motiviert und als einen Versuch des Kremls, einen Gegner der Regierungspartei abzusetzen. Furgal, lautet eine Erklärung, sei Moskau zu populär geworden. „Er ist unser Gouverneur! Und wir werden ihn verteidigen“, skandierten die Demonstranten.

Gouverneur Sergej Furgal soll in Morde an Geschäftsleuten vor 15 Jahren verwickelt sein.
Gouverneur Sergej Furgal soll in Morde an Geschäftsleuten vor 15 Jahren verwickelt sein.
© Valery Sharifulin/imago images/ITAR-TASS

Sie forderten, dass der Prozess in der 600.000-Einwohner-Stadt am Amur stattfindet, nicht in Moskau. Dass die Anschuldigungen gegen den Politiker berechtigt sein können, schließen sie nicht aus. Sie wundern sich jedoch, weswegen die Ermittlungsbehörden bislang untätig waren.

Kritik an Putin

Dabei dürfte es um mehr gehen als den Gouverneur. So erklangen auch Sprechchöre, die sich gegen Präsident Wladimir Putin richteten. „Moskau, geh weg“, riefen die Demonstranten, und „Putin ist ein Dieb“. Die Menschen wehren sich gegen die Einflussnahme des Moskauer Machtapparats auf ihre Region. Beobachter sehen eine Warnung an Präsident Putin und eine wachsende Abwehrhaltung gegen den Einfluss des Kremls in den Regionen.

Anfang Juli ist die neue Verfassung in Kraft getreten, die die Machtbefugnisse des Präsidenten erweitert und ihm das Regieren bis 2036 ermöglicht, sollte er wiedergewählt werden.

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„Die Menschen sind wütend“

In Chabarowsk lagen die Zustimmung zu dieser Verfassungsänderung sowie die Beteiligung am Referendum deutlich unter dem landesweiten Durchschnitt. „Die Menschen sind wütend, verärgert, arm und sehen keine Perspektiven mehr für sich“, erklärte der regierungskritische Politiker Gennadi Gudkow in Moskau das Aufbegehren. Sie hätten genug von der Willkür der Bürokraten und Sicherheitskräfte.

Der andauernde Protest macht die Behörden zunehmend nervös. Chabarowsks Bürgermeister appellierte, wegen der hohen Corona-Ansteckungsgefahr zu Hause zu bleiben. Bereits vor Tagen wurden die Nationalgarde nach Chabarowsk beordert. Der Inlandsgeheimdienst FSB warnte sogar vor Terrorgefahr; ein Anschlag an viel besuchten Orten der Stadt sei bereits verhindert worden.

Kreml-Kritiker Alexej Nawalny fand am Samstag deutliche Worte: Irgendwo bei Moskau sitze Putin in seinem Bunker, blicke nach Chabarowsk und sei verstimmt: „Die ganze Stadt weigert sich, seine endlosen Lügen zu glauben.“

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