Abstimmung über Russlands neue Verfassung: Wie Putins 78-Prozent-Erfolg zustande kommt
Russland stimmt für ein neues Grundgesetz und Putin kann nun bis 2036 regieren. Ob er wirklich so beliebt ist in der Bevölkerung, ist fraglich.
Zahlen sind in Russland Schall und Rauch. Relativ niedrige Angaben bei den Corona-Toten gelten als höchst fragwürdig. Auch die weiter steigenden Neuinfektionen – fast 7000 pro Tag – sollen geschönt sein, wie jüngste Recherchen des Exil-Mediums „Meduza“ ergeben. So sollten möglichst viele Russen in den vergangenen Tagen zur Abstimmung über eine umfangreiche Verfassungsreform gelockt werden.
Die Änderungen betreffen Sozialreformen wie Mindestlöhne und Renten. Konservative Werte werden im Gesetz verankert. Der Präsident erhält zusätzliche Befugnisse. All das, so Wladimir Putin, sei nötig, um „Stabilität, Sicherheit und den Wohlstand“ zu sichern. Zentral aber ist ein Passus, der es Putin ermöglicht, zwölf zusätzliche Jahre im Amt zu bleiben – bis ins Jahr 2036.
Das Interesse der Bürger an der neuen Verfassung, erklärte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Donnerstag, sei vorhersehbar gewesen. Schwer zu prognostizieren sei hingegen „eine so hohe Beteiligung“ gewesen. Das „höchste Niveau der Unterstützung“ sei damit festgehalten worden.
Für vorhersehbar erachteten viele allerdings auch das Ergebnis. Dass die Abstimmung zu Putins Ungunsten enden könnte, war nicht zu erwarten. Das vorläufige Endergebnis bescheinigt dem Kremlchef nun einen klaren Sieg. 77,9 Prozent stimmten für die neue Verfassung, 21,27 Prozent sagten Nein zu den Änderungen. Die Wahlbeteiligung betrug 67,97 Prozent.
Volksbefragung dient der Legitimation
Das Referendum war in erster Linie symbolisch – Präsident und Parlament hatten dem Grundgesetz schon vor Wochen zugestimmt. Mit der Volksbefragung will der Kreml seiner Politik Legitimität verleihen. Die hohe Zustimmung für die Verfassung zeuge von einem großen Vertrauen der Bevölkerung in den Präsidenten, sagte Peskow.
Das Referendum sei ein „Triumph“ für Putin. Der Kremlchef dankte anschließend im Fernsehen für „Unterstützung und Vertrauen“.
Unabhängige Meinungsumfragen hatten zuletzt ein anderes Bild ermittelt: Demnach hält nur ein Viertel der Russen den Staatschef für vertrauenswürdig. 59 Prozent sind mit seiner Politik einverstanden, der niedrigste Wert für Putin in den 20 Jahren seiner Macht.
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Wahlbeobachter kritisierten in den vergangenen Tagen massive Manipulationen. Die Organisation Golos berichtete von Mehrfachabstimmungen und Verstößen gegen das Wahlgeheimnis, Menschen seien zur Stimmabgabe gedrängt worden. Ella Pamfilowa, Chefin der Wahlkommission, widersprach. Es habe „keine ernsthaften Verstöße“ gegeben.
Ihre Kommission hatte noch während der Abstimmung am Mittwoch erste Ergebnisse veröffentlicht. Offen wurden die Wahlberechtigten mit Preisausschreiben an die Urnen gelockt. Große Staatsunternehmen kontrollierten Berichten zufolge, ob ihre Mitarbeiter am Referendum teilnahmen.
Berichte über massive Manipulation
Der russische Wahlforscher Sergej Schpilkin meldete sich am Donnerstag mit einer interessanten Statistik zu Wort. Mehr als 22 Millionen Stimmabgaben sind ihm zufolge verdächtig, berechnet anhand der statistischen Verteilung der Ergebnisse.
Bei der Präsidentenwahl 2018 habe es nur halb so viele Auffälligkeiten gegeben. Doch massive Wahlfälschungen sind nicht neu in Russland - ähnlich systematisch wie jetzt wurde wohl zuletzt bei den Parlamentswahlen von 2011 gefälscht, damals protestierten anschließend Hunderttausende im Land.
Oppositionelle werfen Putin Machtmissbrauch und Verfassungsumsturz vor. Kreml-Kritiker Alexej Nawalny verurteilte das Referendum als „riesige Lüge“. „Die ,Ergebnisse‘, die sie gerade verkündet haben, sind gefälscht“, erklärte er. Sie hätten „nichts mit der Meinung der russischen Bürger zu tun“.
Sibirien stimmt gegen Verfassungsänderung
Die höchste Zustimmung gab es in Tschetschenien, mit knapp 98 Prozent. Die Teilrepublik ist bekannt für besonders Putin-treue Resultate.
Überraschend das Ergebnis aus dem Autonomen Kreis der Nenzen, einem indigenen Volk im Nordwesten Sibiriens. Dort stimmte eine knappe Mehrheit gegen das neue Grundgesetz – als einzige Region in Russland. Peskow erklärte, für das Nein müsse es regionale Gründe geben.