Wutbürger fordern Putin heraus: In Russland wächst eine neue Protestkultur
Die Zivilgesellschaft in Russland war lange schwach, doch das ändert sich gerade: Statt gegen Politik demonstrieren immer mehr Russen für soziale Anliegen.
Zum Beispiel Archangelsk, Regionalhauptstadt im Nordwesten Russlands. Nah am Weißen Meer gelegen, aber weit entfernt von Moskau. Trotzdem hat sich die Verwaltung etwas ausgedacht: Müllmassen aus der Hauptstadt sollen in die Oblast Archangelsk, eine Region etwas kleiner als Frankreich, geschafft werden. Bei Schijes, inmitten der Taiga, ist eine gigantische Mülldeponie geplant.
Schijes ist eine Bahnstation, mehr als 1000 Kilometer von Moskau und fast 800 Kilometer von Archangelsk entfernt. Der Abfall, den Moskau täglich produziert, soll verpackt und unsortiert per Güterzug auf dünn besiedeltes Land transportiert werden. Weit weg von den Zentren, das war wohl der Plan, werde der Müll nicht auffallen. Informationen zum Vorhaben sind bis heute rar, schwer durchschaubare Geschäftsinteressen sollen eine Rolle spielen.
Doch die Verantwortlichen haben ihre Rechnung ohne die Einwohner gemacht.
Seit Monaten wehren sie sich gegen die Müllkippe. Am Bauplatz gingen die Menschen auf die Straße, blockierten das Gelände und errichteten ein Protestcamp.
In Archangelsk demonstrieren Einwohner seit Anfang April – jeden Tag, Junge und Alte. Sie kommen regelmäßig oder spontan. Bei größeren Kundgebungen sind es zuweilen mehrere Tausende. Weder Festnahmen noch Geldbußen konnten sie stoppen. Auf dem Lenin-Platz vor der Regionalverwaltung hält seitdem, an einem Klapptisch bei Tee und Piroggen, ein knappes Dutzend die Stellung – die Aktivisten sprechen von unbefristetem Protest Sie stehen hier bei Sonnenschein ebenso wie bei Regen – und auch, wenn selbst im Sommer die Temperatur an manchen Tagen kaum über zehn Grad steigt.
Menschen befürchten ökologische Katastrophe
„Uns droht eine ökologische Katastrophe“, warnt Ljudmila Sosnina, eine Rentnerin, die sich gegen die Deponie engagiert. Sie fürchtet, dass eine ins Sumpfgebiet um Schijes gebaute Mülldeponie die gesamte Region vergiften könnte. Was, wenn Chemikalien, etwa aus alten Batterien, in den Boden sickern, über Bäche und Flüssen bis ins Weiße Meer gelangen? Ökologen warnen vor einem „Tschernobyl in Zeitlupe“. „Niemand möchte mit dieser Müllhalde leben“, sagt Sosnina.
„Die Proteste sind neu für unsere Region“, sagt Aktivistin Nadja Inijewa. Noch vor einem Jahr, als Russland eine umstrittene Rentenreform verabschiedete, sei der Widerstand vergleichsweise klein gewesen. Warum es nun anders ist? Vermutlich, weil es sich um ein regionales Problem handele, glaubt Inijewa. Die Menschen sorgen sich um ihre direkte Nachbarschaft. Eine Entwicklung, die nicht nur in Archangelsk zu beobachten ist.
Seit Langem ist die russische Zivilgesellschaft schwach und marginalisiert, die Bürger passiv. Nun aber zieht es mehr Menschen auf die Straße, um sich gegen Entscheidungen der Regierungsorgane zu wehren. Dabei machen Russlands neue Wutbürger eine bislang eher unbekannte Erfahrung: ihr Engagement hat Erfolg.
Soziale Proteste nehmen zu
Das beeindruckendste Beispiel liegt nur wenige Wochen zurück. Anfang Juni war der Journalist Iwan Golunow wegen fabrizierten Drogenvorwürfen festgenommen worden. Proteste gegen das dreiste Vorgehen der Behörden führten prompt zum Einlenken.
In der Ural-Stadt Jekaterinburg versprachen Behörden nach teils gewaltsamen Demonstrationen gegen einen Kirchenbau in einem beliebten Park alternative Standorte vorzuschlagen. Am Baikalsee, dem weltgrößten Süßwasserreservoir, wollte ein chinesisches Unternehmen eine Anlage bauen, um Trinkwasser abzufüllen. Nach Protesten stoppte ein Gericht das Vorhaben vorerst.
Soziologen beobachten eine rasant wachsende Zahl sozialer Proteste. Es geht um Ökologie, steigende Lebenskosten, Bildung oder medizinische Versorgung. Im ersten Quartal hat sich die Zahl derartiger Proteste fast verdoppelt, politische Aktionen nahmen ab. Die neuen Demonstranten fordern nicht den Systemwechsel, sondern Verbesserungen im unmittelbaren Lebensumfeld. Sie wollen, dass die Politik ihre Stimme hört , was bisher selten war.
Auf dem Weg zu einer neuen Zivilgesellschaft
„Die Quelle einer neuen Zivilgesellschaft“ nennt Andrej Kolesnikow vom Moskauer Think-Tank Carnegie Center den Müll-Protest von Archangelsk. Der Innenpolitik-Experte spricht von einer „neuen Art von Bürgern“. Vor allem, dass sich die Menschen im Fall Schijes nicht einschüchtern lassen und weitermachen, habe eine „neue Qualität“. Rief bisher oft die politische Opposition zu Aktionen auf, organisieren sich die Bürger in der Erzengelstadt jetzt selbst. Kolesnikow sieht Russlands Einwohner auf einem „Weg zu mehr Zivilgesellschaft“.
Proteste hat es zwar schon früher gegeben, nun will Kolesnikow aber eine neue Entwicklung erkennen: „Die Menschen politisieren sich stärker als noch vor zwei, drei Jahren.“ Die Bürger seien ausdauernder als in der Vergangenheit und bisweilen aggressiver, zum Teil bereit zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Das Risiko steige, die Zahl ähnlicher Proteste anderswo im Land steige.
Dies alles, sagt Kolesnikow, werde zu einem wachsenden Problem für das System. In den bald 20 Jahren unter Wladimir Putin galt bislang die stille Vereinbarung, dass sich das Volk aus der Politik herauszuhalten habe. Nun verschaffen sich die Menschen Gehör. Auf diese neue Zeit für die Zivilgesellschaft müssten sich die Machtstrukturen nun einstellen – mit derzeit unabsehbaren Konsequenzen.
Teilerfolg für Aktivisten
In der Region Archangelsk haben die Aktivisten zuletzt einen Teilerfolg erzielt. Behörden erklärten, die Bauarbeiten auszusetzen und Experten für technische, geologischen und ökologischen Untersuchung heranzuziehen. Die Aktivisten fordern mehr: Sie wollen Lösungen für das gewaltige Müllproblem Russlands, bessere Abfalltrennung und Recycling. „Wir haben Hoffnung, etwas zu bewirken“, sagt Ljudmila Sosnina, die Rentnerin auf dem Lenin-Platz in Archangelsk. „Andernfalls würden wir nicht so stark für unseren Norden kämpfen.“ So wächst in Russland die Zahl der Mutbürger.