Christian Lindner: „Die CSU ist völlig außer Kontrolle geraten“
FDP-Chef Christian Lindner über eine veränderte politische Kultur, die Konflikte in der Regierung und die Abgrenzung der FDP zur AfD. Ein Interview.
Herr Lindner, gibt es Grund zur Sorge um die Demokratie in Deutschland?
Nein, das ist mir zu dramatisch. Die Regierung ist zerstritten und kraftlos, aber unsere Institutionen funktionieren. Insbesondere das Parlament ist lebendig. Da erleben wir die Vielfalt der gesellschaftlichen Debatte. Im Unterschied dazu war mir die letzte Legislaturperiode nicht geheuer, als es keine Opposition aus der Mitte gegen die große Koalition gab.
Die Union droht zu zerfallen, ein Innenminister erpresst öffentlich die Bundeskanzlerin und Europa gleich mit. Die traditionellen politischen Spielregeln scheinen nicht mehr zu gelten. Müssen wir das jetzt also akzeptieren?
Es liegt an den Wählerinnen und Wählern in Bayern, ob dieses Verhalten belohnt wird. Ich kann nur dazu raten, der CSU die absolute Mehrheit zu entziehen. Ich verstehe, dass die CSU eine Wende in der Einwanderungspolitik will. Damit hat die CSU sich aber gegen Frau Merkel und die SPD bei den Koalitionsverhandlungen nicht durchgesetzt. Entweder man lehnt dann den Koalitionsvertrag ab oder man fügt sich. Nachträglich durch Erpressung Dinge zu verändern, ist nicht fair und nicht professionell. Denn die Regierung wird dadurch instabil und unberechenbar.
Erleben wir eine Veränderung der politischen Kultur?
Mit dem Auftreten der AfD hat sich die politische Kultur verroht. Es liegt an uns allen, das nicht zu übernehmen. Ich vermute aber, die gegenwärtige Nervosität und die Krisen hängen schlicht mit verschleppter Erneuerung zusammen. Unter der Oberfläche der Parteien brodelt es, weil alle spüren, dass die Methode Merkel in Deutschland und in Europa erschöpft ist. Deshalb haben ja Menschen, die sich mit dem Status quo nicht mehr zufriedengeben, uns ein Comeback ermöglicht.
Dennoch beobachten wir eine Verschiebung vom Konsens hin zum Konflikt, ja sogar zur Eskalation.
Nach bald 13 Jahren Angela Merkel sind manche von klaren Positionen und Richtungsentscheidungen entwöhnt. Konflikte wurden mit Geld zugeschüttet. Es wäre jetzt aber wirklich an der Zeit, vertagte Entscheidungen anzugehen. Wie ordnen wir eine multikulturelle Gesellschaft? Was ist das digitale Geschäftsmodell Deutschlands? Wie machen wir den Sozialstaat zukunftssicher? Wie versöhnen wir Klimaschutz und Freiheit? Es gibt dazu schlicht unterschiedliche Sichtweisen im Land und die müssen ausgetragen werden. Die Demokratie lebt vom Ideenwettbewerb und nicht von permanenter Konsensrhetorik. Entscheidend ist, dabei Respekt und Stil zu bewahren. Mit Ultimaten, Fristsetzungen, Erpressungen und Vertragsbrüchigkeit wie die CSU kann man nicht arbeiten.
Ist das noch bürgerliche Politik?
Nein, denn bürgerliche Politik ist nicht nur eine Frage des Inhalts, sondern auch der Form. Und mit dem Krawall hat die CSU geradezu lächerlich wenig erreicht. Betroffen sind täglich fünf bis zehn Personen an nur einer einzigen Grenze Deutschlands.
Ist sie eine rechtspopulistische Partei?
Nein, mit dem Vorwurf verharmlost man die wahren Rechtspopulisten. Die CSU ist panisch. Das sieht man an dem Wahlkampfgag, Kreuze in bayerischen Behörden aufzuhängen – das ist Symbolpolitik statt Problemlösung. Wenn Religion zu einer politischen Kategorie gemacht wird, schließt das Menschen aus und die weltanschauliche Neutralität des Staates wird infrage gestellt. Dabei brauchen wir neutrale Spielregeln für die wachsende Vielfalt, um drohende Konflikte zu befrieden. Die benötigten Fachkräfte aus aller Welt kommen nicht, wenn sie das Gefühl haben, in Deutschland sei kulturelle Vielfalt nicht erwünscht.
Gibt es den Kontrollverlust, mit dem die CSU ihr Verhalten begründet, eigentlich wirklich?
Ja, die Vorgänge im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge haben das gezeigt. Wir haben noch immer nicht die Steuerung der Zuwanderung, die wir brauchen, damit die Menschen wieder mit dem Rechtsstaat und der Vielfalt versöhnt sind. Die Vielfalt im Land muss als Bereicherung empfunden werden und nicht als Gefahr. Der Weg dahin funktioniert nicht über Schlagbäume, Anti-Islam-Parolen und Kreuze an der Wand, sondern über eine rationale Einwanderungspolitik nach kanadischem oder französischem Vorbild.
Aber die Zurückweisungen an der Grenze, auf die sich die Koalition geeinigt hat, finden Sie trotzdem richtig.
Ja, wir fordern solche Zurückweisungen schon seit Herbst 2015. Deutschland muss übergangsweise zurück zum unvollkommenen Dublin-System, in dem der Staat zuständig ist, über den ein Asylbewerber eingereist ist. Das kann keine Dauerlösung sein, aber es soll unseren EU-Partnern zeigen, dass wir die Hauptlast nicht allein tragen. Es kann nicht so bleiben, dass wir alleine mehr Flüchtlinge aufnehmen als der Rest der EU. Mit dem Prinzip Hoffnung hat Frau Merkel seit 2015 nichts erreicht. Die Bundesregierung muss also Handlungsdruck in Europa erzeugen, damit es eine abgestimmte Migrationspolitik gibt. Macron macht das längst. Nach der Rechtsauffassung der Bundesregierung ist es auch möglich. Frau Merkel will nicht, weil das ihre Entscheidungen des Sommers 2015 relativiert. Das hat Herrn Seehofer zum Nervenzusammenbruch gebracht. Denn nur mit Einigungsdruck können wir zu einem europäischen System ohne Schlagbäume und mit fairen Verteilquoten, gemeinsamen rechtlichen Standards und der wirkungsvollen Kontrolle der Außengrenzen kommen.
Einige Länder wie Polen oder Ungarn werden aber keine Flüchtlinge aufnehmen, egal wie groß der Einigungsdruck ist.
Das vermute ich auch. Dann sollte ihnen eröffnet werden, stattdessen einen größeren Beitrag zur Kontrolle der Außengrenzen leisten zu können – logistisch, personell und finanziell.
Der SPD ist es zu guter Letzt gelungen, die Union darauf festzunageln, dass sie noch in diesem Jahr ein Einwanderungsgesetz vorlegt. Das muss Sie als FDP-Vorsitzenden doch freuen, oder?
Ja, das ist schon einmal ein gutes Schlagwort. Noch wissen wir aber nicht, was sich dahinter verbirgt. Viel zu lange warten wir darauf, dass zwischen Asyl für wirklich wenige Betroffene, zeitweiligem Schutz von Flüchtlingen und qualifizierter Einwanderung klar unterschieden wird. Wir brauchen schnelle und transparente Verfahren. Wenn das von der großen Koalition kommen sollte, gratuliere ich öffentlich.
In Deutschland schwingt das Pendel von der Willkommenskultur gerade zurück. Haben Sie Sorge, es könnte zu weit schwingen?
Ja. In der Gesellschaft ist die Stimmung längst umgeschlagen. In Berlin-Mitte nimmt man das vielleicht nicht so wahr, aber es gibt viele Menschen im Land, die hart arbeiten, den Sozialstaat finanzieren und Angst haben, dass dieser Sozialstaat von außen gekapert wird. Um die Liberalität zu verteidigen, müssen wir Kontrolle und Rechtsstaatlichkeit stärken.
Woran merken Sie das?
An Umfragen, an Veranstaltungen, auf denen ich spreche. Die Leute sind ungeduldig. Sie fragen sich: Warum gibt es keine Klarheit beim Diesel-Fahrverbot? Warum sieht die Schule meiner Kinder so katastrophal aus? Warum komme ich wirtschaftlich nicht voran, während die Politik sonst für alles Geld hat? Darauf muss die Politik antworten, indem sie handelt und grundlegende Probleme löst.
Aber schürt man nicht gerade Ressentiments, wenn man sagt: Probleme bleiben liegen, weil sich die Politik nur um Flüchtlinge kümmert?A
Leider drängt sich dieser Eindruck bei der politischen Bilanz seit 2015 auf. Deshalb drängen wir auf eine Neuordnung der Migrationspolitik, damit das Land sich anderem widmen kann. Allerdings habe ich die SPD-Politiker immer kritisiert, die gesagt haben, wir müssen jetzt mit Sozialausgaben etwas für die Deutschen tun, weil wir tun ja auch was für die Flüchtlinge. Diese Art der Aufrechnung halte ich für falsch.
Aber Sie machen das doch auch so.
Wo denn?
Sie erzeugen den Eindruck, dass sich die Bundesregierung nur um die Probleme von Asylbewerbern kümmert. Erst in dieser Woche sprachen Sie im Bundestag darüber, was alles seit Herbst 2015, also seit Beginn der Flüchtlingskrise, liegen geblieben ist.
Meine Rede war leider eine nüchterne Analyse.
Im Wahlkampf sagten Sie, dass man hier für das Falschparken sofort ein Knöllchen bekommt, aber Asylbewerber mit 14 Identitäten Sozialleistungen beziehen können. Da stellen Sie auch zwei Dinge nebeneinander, die nichts miteinander zu tun haben.
Finde ich nicht. Da geht es um Zustand und Prioritätensetzung der öffentlichen Verwaltung.
Die FDP ist seit einem Dreivierteljahr in der Opposition im Bundestag. Was haben Sie in dieser Zeit erreicht?
Wir haben die Vielfalt der politischen Debatte wiedergewonnen. Wir haben gezeigt: Es gibt eine Opposition zur Regierung. Beispiel Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Wir wollen die sich stellenden Fragen aufklären, während sich Grüne und Linkspartei gegen einen Untersuchungsausschuss ausgesprochen haben. Wir waren die Partei, die angesichts der enormen Einnahmeentwicklung des Staates einen Gesetzesentwurf zur Abschaffung des Solidaritätszuschlags vorgelegt hat. Wir haben uns gegen eine Vergemeinschaftung von Schulden ausgesprochen – bei einem gleichzeitigen klaren Bekenntnis zur EU.
Sie haben aber das Problem, dass Sie bei vielen Dingen – Bamf, Familiennachzug, Vergemeinschaftung von Schulden – einer Meinung mit der AfD sind.
Dieses Problem sehe ich nicht. Denn ganz abgesehen davon, dass wir unsere Positionen unabhängig von Inhalten der Grünen oder der AfD beziehen, ist Ihre Beobachtung leider oberflächlich. Wir wollen die EU und den Euro stärken und nicht abschaffen. Wir wollen mit der Aufklärung des Bamf-Skandals das Vertrauen in den Rechtsstaat stärken und kein Merkel-Tribunal veranstalten. Und was den Familiennachzug für subsidiär Geschützte betrifft, also für Menschen, die nur eine begrenzte Zeit in Deutschland bleiben sollen: Diese Regelung wurde doch erst 2011 ausgeweitet. Es macht keinen Sinn, Menschen ohne Bleibeperspektive einzuladen, ihre Verwandten nach Deutschland zu holen. Es gibt Härtefälle, ja. Wir sagen: Das junge Mädchen, das krank ist, soll seine Eltern bei sich haben dürfen. Aber der junge Mann, der gesund ist und irgendwann abgeschoben werden muss – warum soll der noch seine Familie nachholen?
Merkel und Seehofer müssen jetzt, um Kontrolle wiederzuerlangen, in Europa Abkommen mit anderen Staaten schließen. Haben die beiden dazu noch die nötige Autorität, die nötige Glaubwürdigkeit?
Dabei wünsche ich ihnen jedenfalls Fortune. Ich bin zufrieden, wenn das Zuwanderungsthema gelöst ist. Es gibt genug Themen, mit denen sich die FDP profilieren kann: Bildung, Steuern, Digitalisierung. Deshalb habe ich auch vorgeschlagen, dass Bund, Länder, Kommunen und die jeweils regierenden Parteien einen Migrationskonsens entwickeln. Dann würde das Thema aus der politischen Machtauseinandersetzung rausfallen und unser Land könnte sich wieder anderen wichtigen Dingen zuwenden.
Bereuen Sie es angesichts des Regierungschaos, jetzt nicht doch mitzuregieren und selbst die Dinge in die Hand nehmen zu können?
Wieso? Im Gegenteil erlebt die deutsche Öffentlichkeit doch, dass Frau Merkel zu grundlegenden Veränderungen nicht bereit und die CSU völlig außer Kontrolle geraten ist.
Also wäre es auch mit der FDP nicht besser geworden?
Das ist nie eine Frage der einzelnen Partei, sondern eine der Konstellation. Bei Jamaika wären ja auch die Grünen dabei gewesen. Der jetzige Stillstand und die Instabilität wären bei Jamaika Routine gewesen. Die Angriffe von CSU und Grünen aufeinander sind ja derzeit in einer Weise verletzend – das lässt doch die Darstellung vom vergangenen Jahr, man sei einer Einigung zum Greifen nah gewesen, in einem etwas anderen Licht erscheinen.
Herr Lindner, hätte Merkel nach den Drohungen und Angriffen Seehofers gegen sie ihren Innenminister rauswerfen müssen?
Das muss sie wissen. Das Ziel von Frau Merkel war doch, die Regierungskrise zu beenden. Sie hat es immerhin geschafft, die Regierungskrise zu vertagen. Aber ich wage eine Prognose: Beste Freunde werden die beiden nicht mehr und eine stabile, geschlossene, erfolgreich arbeitende Koalition wird das auch nicht mehr.
Bereiten Sie sich schon auf mögliche Neuwahlen zur Halbzeit der Koalition vor?
Ich wette nicht darauf und wünsche sie mir auch nicht. Aber wir sind jederzeit bereit für Neuwahlen.
Das Interview führten Maria Fiedler und Antje Sirleschtov.
Maria Fiedler, Antje Sirleschtov