Die EU und der Brexit: Die Briten dürfen nicht bestraft werden
Wenn die Europäische Union die Briten schlecht behandelt, riskiert sie, die Beziehung zu jungen Engländern auf lange Zeit zu vergiften. Ein Kommentar.
Wo sind die weitsichtigen Europäer, wenn man sie bräuchte? 60 Jahre nach den Römischen Verträgen, die die europäische Integration begründeten, wird die Karte der Europäischen Union wieder einmal neu gezeichnet. Erstmals hat ein Mitglied seinen Austritt erklärt. Das ist ein historischer Einschnitt, freilich kein erfreulicher wie 2004 die Erweiterung nach Osten nach Jahrzehnten der Spaltung. Doch erneut hängt das Schicksal des Kontinents davon ab, ob Europa sich der Größe der Herausforderung bewusst ist und ihr gerecht wird.
Das ist nicht allein eine technokratische Aufgabe: Wie lassen sich die engen Beziehungen, die in Jahrzehnten Mitgliedschaft mit fortschreitender Vertiefung entstanden sind, entflechten und wie die Millionen Detailfragen, die daraus erwachsen, regeln? Diese Herkulesaufgabe ist in den zwei Jahren, die die Austrittsklausel vorsieht, kaum zu bewältigen. Schwieriger noch wird das Management der verletzten Gefühle, die mit der Trennung und wechselseitigen Enttäuschung verbunden sind.
Die Deutschen fürchten die Ansteckungsgefahr
Aus dem Blickwinkel der deutschen Interessen drängen sich zwei Gefahren auf. Einerseits die Furcht vor Ansteckung. Die Briten sollen nach dem Austritt nicht besser dastehen als als Mitglied, sonst macht das Beispiel Schule. Genau das haben Brexit-Befürworter aber versprochen. Die Briten könnten Vorteile wie den freien Marktzugang für ihre Waren und Dienstleistungen behalten und aus ihrer Sicht nachteilige Bedingungen wie die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die Zahlungen in EU-Kassen und den Souveränitätsverzicht durch Übertragung von Entscheidungsrechten an Brüssel loswerden. Wenn Rosinenpickerei Erfolg hätte, würde das andere zum Austritt animieren. Das führt nun andererseits zu einer psychologisch bedenklichen Verhandlungsdynamik. Will die EU es wirklich zum Ziel der Gespräche erklären, dass es den Briten spürbar schlechter gehen soll? Das normale Ziel von Verhandlungen ist „win-win“. Alle sollen Vorteile haben. Der freie Marktzugang und viele andere Verflechtungen liegen auch künftig im beiderseitigen Interesse.
In diesen Tagen ist viel zu oft davon die Rede, die EU müsse die Briten für den Austritt „bestrafen“. Selbstverständlich muss London einen Preis dafür bezahlen, wenn es EU-Bürger nicht mehr unbeschränkt auf seinen Arbeitsmarkt lassen, aber freien Zugang zum EU-Markt behalten möchte. „Bestrafen“ ist jedoch das falsche Wort. Und ein gefährliches dazu. Es kann die Beziehungen für eine Generation vergiften, wenn junge Briten über zwei Verhandlungsjahre ständig hören, die EU wolle ihr Land möglichst hart bestrafen.
Was spricht gegen eine Lösung, die beide als vorteilhaft empfinden?
Sofern die EU es ernst damit meint, dass der Brexit ein Fehler sei, den die Briten hoffentlich irgendwann korrigieren, wäre jetzt Weitsicht ratsam. Großbritannien bleibt in Europa, nur eben nicht als EU-Mitglied. Es bleibt auch ein wertvoller Partner in der Sicherheitspolitik. Dass manche in Europa diese Zusicherung aus London als Drohung verstehen wollen, ist ein trauriger Beleg, wie rasch der Dialog in einer Atmosphäre gegenseitigen Übelnehmens entgleisen und das Risiko von Missverständnissen wachsen kann.
Die Ansteckungsgefahr scheint vorerst gebannt. Kein EU-Land macht Anstalten, den Briten zu folgen. Die Nachteile sind offenkundig. Die Briten werden weiter alle Regeln für den EU-Zugang übernehmen müssen, aber nicht mehr an ihrer Festlegung teilhaben. Sie verlieren ihre Vertretung in der Kommission und im Parlament und werden weiter in EU-Kassen zahlen.
Deutschland verhandelt den Brexit nicht, das tut die EU. Als einflussreiches EU-Land mit besten Beziehungen zu den Briten und hilfreichen Dialogforen wie der Königswinter-Konferenz, die gerade zum 67. Mal tagte, kann es aber darauf drängen, der verhängnisvollen Bestrafungslogik zu entkommen. Was spricht dagegen, eine Lösung zu suchen, die sowohl von der EU als auch von den Briten als vorteilhaft empfunden wird? Die „roten Linien“ beider Seiten sind klar. Für die Deutschen hat der Zusammenhalt der verbleibenden 27 EU-Mitglieder Priorität. Für die Briten die Rückgewinnung ihrer Souveränität, zum Beispiel darüber, wer einreisen darf.
Kurzfristiges Interesse steht gegen langfristiges Interesse
Wer nicht 100 Prozent der EU-Pflichten erfüllt, kann nicht 100 Prozent der Rechte haben. Was „100 Prozent minus x“ konkret bedeutet, ist zu verhandeln. Einen billigen Brexit wird es nicht geben. Das weiß Theresa May. Man muss ihn aber auch nicht künstlich verteuern. Das kurzfristige Interesse, die Briten nicht zu preiswert ausscheiden zu lassen, findet seine Grenze im langfristigen Interesse, das Verhältnis zu diesen Miteuropäern nicht dauerhaft zu beschädigen.
Das war im Übrigen auch der Geist von Rom: Konflikte und ihre Ursachen zu überwinden und nicht, sie zuzuspitzen. Damals haben die Deutschen davon profitiert, nur zwölf Jahre nach dem Krieg.
Der Pole Donald Tusk, ein Neu-Europäer an der Spitze des Europäischen Rats, scheint dies mehr zu beherzigen als viele Alt-Europäer. Der Beginn der Brexit-Verhandlungen sei ein trauriger Tag, sagt er, und ein „bestrafender Ansatz“ ein Fehler.