EU-Jubiläum: Voller Mängel, aber doch unersetzlich
Die Welt hat sich in den 60 Jahren, seit der Grundstein für die EU gelegt wurde, geändert. Um unsere Werte zu bewahren, ist jetzt Einigkeit gefragt - und Mut. Ein Kommentar.
Frank-Walter Steinmeier, der neue Bundespräsident, fordert uns auf, mutig zu sein. Joachim Gauck, sein Vorgänger, gab 2013 einem Buch den Untertitel „Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen“. Und auch Kanzleramtsminister Peter Altmaier wünscht sich heute in einem Interview dieser Zeitung vor allem Mut. Tatsächlich sind es Mutlosigkeit und ein trotzig-resignativer Grundton, die die Haltung vieler Menschen gegenüber der Europäischen Union bestimmen, 60 Jahre, nachdem der Grundstein für die EU gelegt wurde.
Auf der Suche nach dem Glück
Angesichts von Herausforderungen wie Globalisierung und Flüchtlingsströmen bröckelt die Solidarität. Gleichzeitig wächst das Anspruchsdenken. Aber der Rückzug ins Nationale, verbunden mit der Illusion, sich in einem biedermeierlichen Kokon wohnlich einrichten zu können, verhindert das Erkennen der Wirklichkeit. Weder Deutschland noch Europa werden je wieder das sein können, was sie vor 50 oder 60 Jahren gewesen sind. Und wer sich heute einbildet, damals sei alles besser, vor allem überschaubarer gewesen, blendet Kriege und Revolutionen, Massenvertreibungen und Aufstieg und Fall von Diktaturen einfach aus – Ereignisse, die die Menschen über den ganzen Kontinent durcheinanderwirbelten, ganze Generationen entwurzelten und zwangen, an neuen Orten wieder Fuß zu fassen, Heimat zu finden.
Dieses Europa hat Jahrhunderte lang Menschen auf der Suche nach Frieden, Sicherheit, Reichtum oder, ja, Glück in alle Welt ziehen lassen oder sie hinausgetrieben, so wie es jetzt Menschen auf der Suche aufnehmen muss. Da uns keine Mauer und kein Zaun vor dem „wind of change“ bewahren werden, besteht unsere einzige Chance, unsere Werte bewahren zu können, in unserer Einigkeit. Lassen wir uns jedoch durch Egoismen auseinanderdividieren, versinken wir in die Bedeutungslosigkeit in einer Welt, die schon lange von anderen Machtzentren als Europa dominiert wird.
Gerade wegen Trump braucht Europa Einigkeit
Früher empfanden die USA ein einiges und stabiles Europa als den Pfeiler, der die Brücke des westlichen Wertesystems auf dieser Seite des Atlantiks trägt. Jetzt wird Amerika von einem Präsidenten geführt, dessen Bestreben die Dekonstruktion des einigen Europas ist, weil er glaubt, so Amerikas Einfluss vergrößern zu können. Das ist töricht und kurzsichtig. Deshalb wird es für die Staaten der Europäischen Union immer wichtiger, zusammenzubleiben und den langen Weg nach Westen, den der alte Kontinent unter Opfern und mit großen Erfolgen gegangen ist, fortzusetzen und sich nicht auf Nebenwegen zu verirren.
Gerade weil es keinen europäischen Verfassungspatriotismus gibt, ist das Bewusstsein für die große Gefahr, in die wir geraten können, so wichtig. Die Werte Europas und der Wert Europas selbst sind bedroht. Vor allem die junge Generation will sich all das nicht nehmen lassen und geht deshalb für die Einheit Europas auf die Straßen und Plätze. In Bewegungen wie „Pulse of Europe“ trifft sich dieses junge Europa mit dem der Älteren. Die wissen nämlich noch sehr genau, wie alles „vor Europa“ war und sind gewarnt.
So müssen heute Alt und Jung zusammenstehen, um die mittleren Jahrgänge aufzurütteln. Denen scheint das Erreichte selbstverständlich, sie sind träge und wollen nicht mehr für dessen Erhalt kämpfen. Zeigt Mut zu Europa – an niemand richtet sich der leidenschaftliche Appell mehr als an sie.