SPD nur bedingt regierungsbereit: Die Botschaft hinter dem Scholz-Höhenflug
Olaf Scholz will kein Rot-Rot-Grün. Der Zuspruch zu seinem Kurs und dem von Giffey und Schwesig zeigt: Die Parteilinke sollte die Signale hören. Ein Kommentar.
Die Politik ist manchmal ein verrücktes Geschäft. Im November 2019 sollte Norbert Walter-Borjans die Frage beantworten, wer für ihn die bessere Wahl wäre: ein Kanzlerkandidat Olaf Scholz oder ein Kanzlerkandidat Kevin Kühnert?
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Kühnert natürlich, sagte Walter-Borjans, damals Bewerber um den SPD-Vorsitz. Es sei notwendig, mit Köpfen anzutreten, die eine neue sozialdemokratische Orientierung auch emotional wieder deutlich machen können, sagt Walter-Borjans im Interview mit dem „Spiegel“. Eine Kandidatur von Olaf Scholz wäre nicht das Signal, mit dem die SPD diese Menschen wieder ansprechen könne.
Knapp zwei Jahre später ist Scholz in der SPD plötzlich der gefühlte Superstar. Seine Kandidatur konnte sich, das hätte damals kaum jemand gedacht, aus der Niederlage im Wettstreit um den Parteivorsitz entwickeln. Wäre er Parteivorsitzender und Kanzlerkandidat geworden, hätten die Parteilinken ihn bei anhaltend schlechten Umfragewerten irgendwann eingenordet.
Es gewannen aber Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans die Vorsitzwahl, maßgeblich von Jusos und Parteilinken unterstützt. Sie hatten aber so die Autorität, den Kanzlerkandidaten Scholz – mangels Alternativen – durchzusetzen und als richtige Wahl zu verteidigen. Über Monate blieb es auf dem linken Flügel ruhig. Diese Geschlossenheit ist sicher der größte Erfolg der Parteichefs.
Dadurch kann eine weitere kuriose Situation entstehen. Wenn Scholz es schafft, am Wahlabend des 26. September die SPD auf Platz 1 zu hieven, wird er viel mehr Beinfreiheit haben, als viele jetzt denken, die ihn eingemauert durch Esken und Kühnert sehen. Er wird ziemlich freie Hand haben für Koalitionsverhandlungen, da auch die Parteilinke ihm zu großem Dank verpflichtend sein wird. Denn viel mehr SPD-Politiker würden in den Bundestag einziehen, als gedacht. Und klar ist: Es wäre viel mehr eine Scholz-, denn eine SPD-Wahl.
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Knackpunkt Rot-Rot-Grün
Daher ist auch die Rote-Socken-Kampagne von CDU/CSU, die Kühnert bei „Anne Will“ rhetorisch geschickt kritisiert hat, mehr Verzweiflungstat. Scholz will eine Ampel-Koalition, oder, nichts scheint zum aktuellen Zeitpunkt mehr unmöglich: Rot-Grün. Er kann aber ein Bündnis unter Einschluss der Linkspartei nicht einfach ausschließen, da ein Parteitagsbeschluss von 2013, diese Option offenzuhalten, dem entgegensteht.
Und Scholz kann die Option Rot-Rot-Grün als Druckmittel gegen FDP-Chef Christian Lindner auch gut gebrauchen. Lindner könnte gegenüber seinen Anhängern schlecht sagen, „ Nee, lieber wieder nicht regieren“ – und Deutschland dadurch ein rot-rot-grünes Bündnis bescheren. Zieht Scholz aber die linke Karte, würde er viele der neuen Anhänger in der Mitte sofort wieder verprellen, dann könnte es ein Pyrrhussieg sein.
Ein richtig gewagtes Manöver, und eine Kampfansage an den linken Flügel, wäre eine Ankündigung vor der Wahl, mit ihm als Kanzler werde es kein Linksbündnis geben.
Das könnte ihm gerade in der Mitte und von enttäuschten Unions-Wählern einen zusätzlichen Stimmengewinn bescheren und zum Wahlsieg tragen.
Was Scholz, Giffey und Schwesig eint
Die Parteilinke um Kühnert und Esken sollte eine Lehre aus dem Umfrage-Höhenflug ziehen, nach dem Motto: Hört die Signale. Nirgendwo hat die SPD bisher mit einem klaren Linkskurs gewonnen, Wahlen werden in Deutschland in der Mitte gewonnen. Franziska Giffey in Berlin, Manuela Schwesig in Mecklenburg-Vorpommern, Olaf Scholz im Bund: Alle drei stehen für einen pragmatischen, bürgernahen Mitte-Kurs, der auch Konflikte mit dem linken Flügel wagt. Alle drei ziehen ihre Partei in Umfragen gerade kräftig nach oben, weil sie als Personen und mit ihrem Kurs in andere Lager hineingreifen. Dieser Kurs verspricht Erfolg.
Die „Vermerkelung“ des Olaf Scholz
Scholz hat das mit seiner „Vermerkelung“ wie kein Zweiter vorgelebt. Es gehört Chuzpe dazu, wie die SPD, die erst raus aus der großen Koalition wollte und eigene Erfolge schlecht redete, jetzt die „Groko“ quasi als Riesending feiert und Scholz daher zum rechtmäßigen Erbe der Kanzlerin erklärt. Die Union mit ihrem Kanzlerkandidaten Armin Laschet steht staunend und ideenlos am Spielfeldrand.
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Dennoch sollte das nicht den Blick auf folgenden Punkt verklären: Das Bündnis Scholz-Parteilinke ist ein fragiles. Gerhard Schröder, der letzte SPD-Kanzler, wurde von einer stabileren Welle und mit der Idee eines Regierungsprojekts getragen. Dennoch brachen auch hier schnell die Konflikte auf, Schröder setzte sich durch, Oskar Lafontaine flüchtete.
Viele gute Leute sind weg
Die SPD ist mitnichten mit sich im Reinen. Entscheidende Fragen in der SPD sind vor dieser Wahl ungeklärt: Darf die Bundeswehr bewaffnete Drohnen bekommen? Wieviel Umverteilung will man? Wie sollen zu starke Belastungen der Bürger durch Klimaschutzmaßnahmen verhindert werden? Wie sieht kluge Mittelstandspolitik aus? Mehr Schulden oder Schuldenbremse einhalten? Und sind Mietendeckel wirklich die Lösung?
Mehrere Fachpolitiker, wie der Verteidigungsexperte Fritz Felgentreu, haben auf eine erneute Bundestagskandidatur verzichtet, einige wurden auch Opfer des Linksrucks, sie werden fehlen - und in den Bundestag werden viele noch recht unerfahrene Nachwuchspolitiker ohne Berufserfahrung einziehen. Wenn sich der Nebel lichtet, dann wird sich zeigen: Die SPD ist nur bedingt regierungsbereit.