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Müll als Einnahmequelle: Ein Junge in Gaza auf der Suche nach Dingen, die er möglicherweise verkaufen kann.
© Said Khatib/AFP

Not in Gaza: "Die Blockade durch Israel muss enden"

Vor acht Monaten endeten die Kämpfe zwischen der islamistischen Hamas und Israel. Doch Gazas Wiederaufbau kommt nicht voran. Ein Gespräch mit UN-Direktor Robert Turner über schlechte Lebensbedingungen, fehlendes Geld und die Versäumnisse der Politik.

Herr Turner, acht Monate sind seit dem Krieg zwischen der Hamas und Israel vergangen. Wie ist die Lage im Gazastreifen?

Schlecht. Vor allem schlechter als vor dem Krieg. Armut, Arbeitslosigkeit, Not – alles ist noch schlimmer geworden. Mehr als 9000 Häuser wurden zerstört, 100.000 Menschen leben in behelfsmäßigen Unterkünften. Die Arbeitslosigkeit liegt bei mehr als 45 Prozent. Die Hälfte der 1,8 Millionen Einwohner ist auf Lebensmittelhilfe angewiesen. Die Leute sind zornig, frustriert. Sie haben kaum Hoffnung, dass sich etwas zum Besseren wendet.

Sind Sie zuversichtlicher?

Was mir Hoffnung gibt, ist die Tatsache, dass die Menschen bemerkenswert widerstandfähig sind. Sie trotzen im Rahmen ihrer Möglichkeiten den Gegebenheiten. Die Bevölkerung ist zudem sehr gut ausgebildet. Entscheidende Bedeutung kommt daher der Politik zu. Sie ist für den Konflikt verantwortlich, sie muss ihn lösen – umgehend. Das gilt sowohl für die israelische als auch für die palästinensische Seite. Nur dann wird sich die Lage in Gaza endlich verbessern.

Was muss passieren?

Ganz klar: Die Blockade durch Israel muss enden. Es gelangen zwar Waren nach Gaza. Aber die Blockade zerstört den Zugang zu Märkten, zum Beispiel im Westjordanland. Sie verhindert, dass man sich frei bewegen kann. Und wenn kein Handel möglich ist, dann gibt es keine ökonomische Grundlage für ein normales Leben.

Immer wieder wird Israel für seine strengen Grenzkontrollen scharf kritisiert. Ist Jerusalem denn allein Schuld an der Misere in Gaza?

Nun, die Blockade wird von Israel aufrechterhalten. Und sie verstößt gegen das Völkerrecht. Ich habe allerdings den Eindruck, dass sich seit Kriegsende Jerusalem von seiner restriktiven Position zumindest ein wenig entfernt. Es gibt kleine Verbesserungen, auch wenn sie noch nicht ausreichen. So können inzwischen zumindest einige Waren von Gaza ins Westjordanland ausgeführt werden.

Israel fürchtet, gerade Baumaterial wie Zement könnte von der Hamas wieder für den Bau von Tunneln missbraucht werden. Haben Sie Verständnis für diese Sicherheitsbedenken?

Auf jeden Fall. Mit Blick auf Gaza hat Israel berechtigte Sicherheitsinteressen. Doch wir überwachen die Lieferungen von Anfang an. Das beginnt an der Grenze und endet auf der Baustelle. Auch die Lagerstätten werden 24 Stunden am Tag von unseren Mitarbeitern gesichert. Selbst die Israelis haben bestätigt, dass unser Material nicht missbraucht wird.

Auch Ägypten hat den Grenzübergang zu Gaza fast komplett geschlossen. Müssten die UN da nicht auch in Kairo intervenieren?

Ägypten ist mehrfach gebeten worden, aus humanitären Gründen den Übergang wieder zu öffnen. Es gibt aber einen grundsätzlichen Unterschied zur Blockade: Als Besatzungsmacht ist Israel verpflichtet, sich um die Menschen in Gaza zu kümmern.

Als Besatzungsmacht? Israel hat sich doch 2005 aus dem Küstenstreifen zurückgezogen!
Der Rückzug hat völkerrechtlich die Besatzung nicht beendet. Israel kontrolliert nach wie vor die Grenzen, den Luftraum und die Seewege. Das ist entscheidend.

Robert Turner leitet seit drei Jahren als UN-Direktor die Projekte im Gazastreifen.
Robert Turner leitet seit drei Jahren als UN-Direktor die Projekte im Gazastreifen.
© Imago

Es mangelt vor allem auch an Geld für den Wiederaufbau. Die Staatengemeinschaft hat zwar Milliarden in Aussicht gestellt. Doch nur ein kleiner Teil der Summe steht bislang zur Verfügung. Woran liegt das?

Eine sehr gute Frage, die wir den Gebern auch stellen. Deutschland übrigens hat im Gegensatz zur Mehrheit der Staaten seine Zusage erfüllt.

Vielleicht liegt es daran, dass die Geber fürchten, ein baldiger neuer Krieg könnte alle finanziellen Anstrengungen gleich wieder zunichte machen.

Das Problem ist doch, dass die Menschen leiden. Sie zahlen den Preis dafür, dass die Politik keine Lösungen findet. Das muss sich ändern.

Hilfsorganisationen werfen den Palästinenserorganisationen Hamas und Fatah vor, ihre Rivalität erschwere ebenfalls den Wiederaufbau. Sehen Sie das auch so?

Es kann schon sein, dass einige Staaten zögern, Geld zu geben, weil sie in Gaza politische Stabilität vermissen. Das könnte sich ändern, wenn die Hamas und die Fatah ihrer angekündigten Aussöhnung Taten folgen lassen. Das wäre wichtig. Denken Sie daran, dass es seit Ausbruch des Krieges Mitte vergangenen Jahres keine funktionierende Regierung, keine Verwaltung mehr gibt. Wir hoffen sehr, dass die Einheitsregierung möglichst bald ihre Arbeit aufnimmt und sich um den Aufbau einer öffentlichen Infrastruktur kümmert.

Die Menschen wollen aber schon heute den Gazastreifen verlassen, um Not und Elend zu entkommen. Was muss geschehen, um diese Entwicklung aufzuhalten?

Die Lebensbedingungen müssen sich grundlegend verbessern. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass sich die Menschen frei bewegen können. Davon kann keine Rede sein. Seitdem auch die Tunnel Richtung Ägypten zerstört sind, kommen die Leute aus Gaza nicht mehr heraus. Der Küstenstreifen gleicht einem Freiluft-Gefängnis. Das hat nicht zuletzt immense psychologische Folgen.

Inwiefern?

Als junger Mensch von sagen wir 15 Jahren kennen sie nichts anderes als die Blockade. Ein normales Leben zu führen, wie wir es in Europa kennen, ist fast unmöglich. Gerade Jugendliche kennen niemanden außerhalb Gazas, haben keinerlei Kontakt zu anderen Menschen, sind völlig isoliert. Eine frustrierende, traumatische Erfahrung.

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