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Teppiche als Schutz: Tausende Menschen haben im Gazakrieg ihr Zuhause verloren.
© Holmberg/SOS-Kinderdörfer

Interview zur Not in Gaza: „Das Leben der Menschen liegt in Trümmern“

Ein halbes Jahr nach dem Krieg zwischen der Hamas und Israel fehlt es in Gaza an allem: Ein Gespräch mit Samy Ajjour von SOS-Kinderdörfer über den schleppenden Wiederaufbau, zögernde Geldgeber und um sich greifende Hoffnungslosigkeit.

Herr Ajjour, Sie leiten die Einrichtungen der Hilfsorganisation SOS-Kinderdörfer im Gazastreifen. Was sehen Sie beim Blick aus dem Fenster Ihres Büros in Rafah?
Viel Trostloses: Kinder, die inmitten zerbombter Häuser spielen. Ihre Hosen sind zerschlissen, die Schuhe voller Löcher. Die Frauen versuchen, etwas Essbares aufzutreiben. Die Männer sitzen vor Ruinen, die mal ihr Zuhause waren, und haben nichts zu tun. Es gibt hier keine Jobs.

Das klingt dramatisch.
Die Situation ist wirklich extrem schwierig. Es fehlt eigentlich an allem, um den Alltag halbwegs zu meistern. Strom zum Beispiel. Medikamente sind auch Mangelware. Von Lebensmitteln ganz zu schweigen. Für viele Familien geht es deshalb um ganz Existenzielles: Wie kommen wir an Trinkwasser? Was können wir heute kochen? Wo finden wir ein Dach über dem Kopf? Seit dem Ende des jüngsten Krieges gegen Israel hat sich für die Menschen nichts verbessert. Im Gegenteil. Die Leute sind enttäuscht und frustriert. Ihr Leben liegt wortwörtlich in Trümmern.

Woran fehlt es am meisten?
Wir brauchen unbedingt und ganz dringend Material für den Wiederaufbau, Zement zum Beispiel. Nur so ist es möglich, die kaputten Häuser und Wohnungen wieder aufzubauen oder durch neue zu ersetzen. Ich schätze, dass etwa 15 000 Häuser komplett zerstört sind, weitere 30 000 wurden beschädigt. Rund 25 000 Menschen haben kein Zuhause mehr, müssen in provisorischen UN-Unterkünften, Zelten und Bretterverschlägen mit Plastikplanen ausharren.

Sami Ajjour (38) leitet die Einrichtungen der Organisation SOS-Kinderdörfer im Gazastreifen.
Sami Ajjour (38) leitet die Einrichtungen der Organisation SOS-Kinderdörfer im Gazastreifen.
© Promo

Warum kommt ein halbes Jahr nach Kriegsende der Wiederaufbau nicht voran?
Israel lässt wie Ägypten so gut wie kein Baumaterial in den Gazastreifen.

Mit welcher Begründung?
Es könnte von Terroristen wieder für den Bau von Tunneln missbraucht werden.

Ist es unter diesen Bedingungen überhaupt möglich, dass beispielsweise Kinder in Gaza zur Schule gehen?
Ja, aber es fehlen Unterrichtsmaterial und Klassenräume.

Viele Mädchen und Jungen sind durch den 50-Tage-Krieg gegen Israel traumatisiert. Wie kann man ihnen helfen?
Das ist ein riesiges Problem. Es sind wohl zehntausende Kinder, die schwer traumatisiert sind. Sie sprechen nicht mehr, bettnässen, können sich nicht mehr konzentrieren oder schreien unvermittelt los. Für so viele und komplizierte Fälle haben wir nicht genug Experten. Und: Die Gesellschaft bricht zusammen. Strukturen, die hunderte Jahre funktioniert haben, bieten keinen Halt mehr. Die Hoffnungslosigkeit, die nach dem Krieg mehr und mehr um sich greift, führt sogar dazu, dass Kinder schwer misshandelt und sexuell missbraucht werden. Das war bislang unvorstellbar.

Wie kann eine Organisation wie SOS-Kinderdörfer da gegensteuern?
Wir planen gerade ein großes SOS-Zentrum für kurz- und mittelfristige psychologische Behandlung von Kindern in Gaza-Stadt. Dort wollen wir pro Jahr rund 1000 Kinder betreuen. Derzeit gibt es im Gazastreifen jedoch keine Spezialisten, die sich qualifiziert um missbrauchte Kinder kümmern können.

Immer mehr Menschen versuchen, Gaza zu verlassen. Sie machen sich auf den gefährlichen Weg nach Europa, um Not und Elend zu entkommen. Ist diese Entwicklung noch aufzuhalten?
Ich weiß es nicht. Die Menschen wollen weg, weil sie hier absolut keine Perspektive haben. Vor allem die Jugend sieht in Gaza keinerlei Zukunft mehr. Deshalb ist es so wichtig, dass die Grenzübergänge zu Ägypten und Israel geöffnet werden, damit alles Notwendige für den Wiederaufbau nach Gaza gebracht werden kann. Nur dann werden wohl auch die Geberländer willens sein, wie versprochen den Wiederaufbau zu finanzieren. Dafür wurden im Herbst 5,4 Milliarden Dollar in Aussicht gestellt. Doch das Geld wird nicht bereitgestellt.

Warum zögern die Geldgeber?
Sie sind sich nicht sicher, ob die finanziellen Mittel wirklich bei den Bedürftigen ankommen. Und sie fragen sich: Warum soll ich investieren, wenn in ein paar Monaten wieder Krieg herrscht und dann alles erneut in Schutt und Asche liegt? Doch ohne das Geld wird die Verzweiflung der Menschen immer größer werden – wenn das überhaupt noch möglich ist.

Das Gespräch führte Christian Böhme.

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