Weshalb Israelis Einsatz in Gaza verweigern: "Es ist so einfach für uns, einen Menschen zu töten"
Versager. Verräter. Sich selbst hassender Jude. So werden junge Israelis beschimpft, die sich dem Einsatz im Gaza-Streifen verweigern. Oder das Grauen an der Front öffentlich machen wollen. Zwei Soldaten berichten über ihren Tabubruch.
Als der Anruf kam und sie ihm mitteilten, dass er eingezogen wird, hätte Eyal Shifra* eine Ausrede erfinden können. Dass er dieses Mal aus persönlichen Gründen nicht antreten könne. Aus familiären. Oder aus gesundheitlichen. Doch Eyal Shifra, 33 Jahre alt, wollte die Wahrheit sagen. Und endlich zu seiner Meinung stehen.
„Ich kann das nicht mit meinem Gewissen vereinbaren“, sagte er dem Soldaten am Telefon.
„Heißt das, du kommst?“
„Nein, ich kann aus Gewissensgründen nicht dienen.“
„Ich verstehe nicht ganz …?“
Verwirrt legte der Mann auf. „Die Soldaten, die da anrufen, rechnen vielleicht mit Ausreden. Aber dass jemand aus moralischen Gründen verweigert, das haben sie schlicht nicht verstanden“, sagt Shifra. Es dauerte ein wenig, dann klingelte erneut das Telefon, und auch nach diesem Gespräch folgten weitere Anrufe. Zuletzt gab es keine Fragen mehr, nur noch eine Anweisung: Fünf Tage habe Eyal Shifra Zeit, um zum Dienst anzutreten.
Keine Hoffnung mehr auf Frieden
Shifra ist aber fest entschlossen, den Reservedienst in der israelischen Armee während der andauernden Operation „Fels in der Brandung“ im Gazastreifen zu verweigern. Er will nicht schon wieder für einen Krieg eingezogen werden, wie bereits 2009 für die Operation „Gegossenes Blei“. Er will nicht noch einmal „auf die Araber draufhauen“, wie er sagt und hat längst die Hoffnung aufgegeben, dass zwischen Israelis und Palästinensern bald ein dauerhafter Frieden geschlossen könnte.
Nein, er sei kein fanatischer Friedensaktivist, sagt Shifra, auch kein Befürworter der Hamas. Und schon gar nicht hasse er sein Heimatland. Shifra ist vielmehr überzeugt, dass Israel das Recht habe, sich zu verteidigen. Und dass das Land etwas gegen den Raketenhagel aus dem Gazastreifen und die Tunnel, die bis in die Dörfer entlang der Grenze reichen, tun müsse. „Aber Israel lässt den Menschen in Gaza ja kaum eine andere Chance. Ich glaube, dass es bessere Wege gibt, sein Land zu verteidigen und die Hamas zu eliminieren“, sagt Shifra. Es wäre beispielsweise viel wirkungsvoller, wenn Israel die palästinensische Opposition, Präsident Mahmud Abbas, unterstützen würde. Die Operation „Fels in der Brandung“ hingegen habe die Hamas gestärkt. „Weil wir den Wunsch nach Rache schüren“, sagt Shifra.
Er ist bereit, für seine Überzeugung ins Gefängnis zu gehen – allerdings erst nach seinem längst geplanten Urlaub. Als fünf Tage später die Militärpolizei bei ihm an der Haustür klingelt, sitzt Eyal Shifra bereits mit seiner Familie in einem Flugzeug an die französische Mittelmeerküste.
Das Grauen öffentlich machen
Verweigern ist eine Möglichkeit. Andere junge Israelis haben sich nach ihrem Einsatz entschlossen, das Grauen öffentlich zu machen. Sie sind der Organisation „Breaking the Silence“ beigetreten. Indem sie über Erlebnisse an der Front und das Vorgehen der Armee sprechen, wollen die Soldaten das gesellschaftlich verordnete Schweigen brechen. „Breaking the Silence“ veröffentlicht nur Aussagen, die von Kämpfern aus derselben Einheit bestätigt worden sind – damit keine Unwahrheiten oder Propaganda verbreitet werden können. Seit ihrer Gründung im Jahr 2004 haben mehr als 950 Soldaten Zeugnis von ihren Einsätzen in der Armee abgelegt – viele anonym, einige namentlich.
Einer von ihnen ist Nadav Weiman. Er erzählt seine Geschichte an einem Abend im August in einem Café in Florentin, einem Stadtteil im Süden Tel Avivs. 70 Kilometer weiter südlich ist die Operation „Fels in der Brandung“ noch immer im Gange. Weiman ist bis heute immer mal wieder als Reservist im Einsatz. Er sei kein Pazifist und kein „self-hating Jew“ – ein sich selbsthassender Jude, wie viele in Israel über die Soldaten von Breaking the Silence schimpfen. Er rufe auch nicht dazu auf, zu verweigern. Im Gegenteil: „Ich möchte Israel, die Gesellschaft und die Demokratie verteidigen“, sagt er. Doch das heiße auch, die Vorgehensweisen des Militärs kritisieren zu können.
Der Panzer fuhr gleich ins Haus - sie mussten Zeit sparen
Nadav Weiman erinnert sich noch genau an den Moment, in dem ihm bewusst wurde, was es bedeutet, als Frontsoldat zu dienen. Er war Späher in einem Scharfschützenteam innerhalb der sogenannten Nahal Infanterie Brigade im Westjordanland. Er und sein zwölfköpfiges Team waren gut, sie wurden sogar für ihre Arbeit ausgezeichnet. Deshalb mussten sie 2008 für einen Einsatz in den Gazastreifen. Es war die Zeit vor der Operation Gegossenes Blei, aber nach dem Abzug aus dem Gazastreifen. „Damals war die Armee immer mal wieder dort aktiv.“
Die Soldaten sollten aus einem Dorf an der Grenze ein paar Männer zum Verhör nach Israel bringen. Ob sie mutmaßliche Terroristen waren, wusste Nadav Weiman nicht. Sein Team hatte die Aufgabe, vom Dach des Hauses aus die Lage zu überwachen, für Sicherheit zu sorgen. „Der Einsatz war völlig anders als alles, was wir aus dem Westjordanland kannten.“ Die Einheit sei mit rund 100 Soldaten in Panzern in das Dorf an der Grenze gefahren und habe mit Maschinengewehren und Granaten um sich gefeuert.
Nadav muss mit seinen Gewissensbissen und den Bildern leben. Vor allem, weil er als Späher in einer Scharfschützeneinheit alles wie aus der Nähe mit angesehen hat. Ihm bleiben die Gesichter der Menschen in Erinnerung, die ihn angeschaut haben. Ängstliche Kinder. Verzweifelte Frauen. Wütende Männer. Und die Gesichter von Menschen, die im nächsten Augenblick getötet wurden.
"Es ist so einfach für uns, einen Menschen zu töten"
Nadav Weiman erzählt, wie sie in dem Dorf das Haus einer Familie stürmten. „Wir haben mit dem Panzer gleich ein Loch in die Wand gefahren, um schneller in das Gebäude zu kommen und um nicht zu viel Zeit auf der Straße zu verbringen.“ Alle Männer seien abgeführt, die Frauen in einen Raum zusammengetrieben worden. Die Sicherheit der israelischen Soldaten gehe bei Einsätzen stets vor. Deshalb hatten die Scharfschützen angeordnet, das Gewächshaus nebenan mit einem Bulldozer zu zerstören, um die Sicht zu verbessern. „Das Haus der Familie war leer. Die hatten ein paar Kartoffeln auf dem Tisch. Die waren arm. Und wir haben deren ganzes Gewächshaus plattgemacht. Ich höre es noch genau, wie die Mutter die ganze Nacht lang geschrien hat.“
Es war während eines Einsatzes im selben Dorf in Gaza, ein paar Wochen später. Wieder stand Nadav Weiman mit seinem Team auf dem Dach eines Hauses. Die Regel laute: Palästinenser dürfen keine Waffen tragen. Wenn sie es tun, dürfen sie getötet werden. „Es war nachts und da lief ein Mann auf der Straße. Ich habe genau hingesehen, er war nicht bewaffnet“, sagt Weiman. „Ich habe den Befehl zum Abschuss nicht gegeben.“ Wenige Sekunden später fiel trotzdem ein Schuss, von einem der anderen Scharfschützen auf einem Hausdach nebenan. Der Palästinenser brach tödlich getroffen auf der Straße zusammen.
Er habe mit den Kameraden des anderen Einsatzteams nie über den Vorfall gesprochen, doch auf diesem Hausdach eines gelernt: „Es ist so einfach für uns, einen Menschen zu töten.“
Er begann, Einsätze zu hinterfragen
Was sie mit dem Toten auf der Straße gemacht haben?
„Nichts. Er blieb dort liegen.“
Nadav Weiman erzählt seine Geschichte nüchtern, zieht zuweilen an seiner selbst gedrehten Zigarette. Er fing an, auch seine Einsätze in der Westbank zu hinterfragen. „Sie haben uns gehasst. Nicht, weil wir Juden sind oder Israelis, sondern weil wir die besetzenden Soldaten waren.“ Es sei unmoralisch und falsch, das Land der Palästinenser zu besetzen. Zu bestimmen, wann sie Dörfer bauen dürfen oder Straßen. „Keine Armee kann die Idee des Widerstandes brechen“, sagt Weiman.
Er hatte sich damals bewusst dafür entschieden, in einer Kampfeinheit zu dienen. „Gleichzeitig wollte ich ein moralischer, ein guter Soldat sein.“ Es dauerte nicht lange, da haben ihn seine Kameraden nur noch den Linken genannt, der die Araber liebe. Weil er nach dem Wochenende mit der linksliberalen Tageszeitung Ha’aretz in die Militärbasis zurückkehrte. Und palästinensischen Kindern auf der Straße manchmal Schokolade schenkte. „Mein Team war sehr liberal. Wir haben viel über Politik gesprochen. Bis heute sind wir alle in Kontakt, sind gute Freunde.“ Seine engen Kameraden akzeptieren, dass er sein Schweigen gebrochen hat, etliche andere Soldaten beschimpften ihn hingegen als Verräter, schneiden ihn bis heute.
Fast alle leiden unter ihrer Zeit beim Militär
Dabei leiden fast alle unter ihrer Zeit beim Militär. Viele Soldaten verschwinden nach ihrem Dienst erst mal für ein paar Monate, genießen die Freiheit in Indien oder Südamerika. Auch Weiman musste Abstand gewinnen, bevor er „Breaking the Silence“ beitrat. „Ich habe nach meinem Dienst ein Jahr lang gejobbt, danach bin ich für ein Jahr nach Südamerika.“ Heute leitet Weiman im Namen der Organisation Touren durch das Westjordanland, erklärt Interessierten an Ort und Stelle das Vorgehen der Armee.
Probleme bekam er auch mit seiner Familie und seinen Freunden. Vor allem sein Vater, der in der Armee zum hochrangigen Offizier aufgestiegen war, ärgerte sich über das Engagement. „Doch ich habe ihnen dann erzählt, was Breaking the Silence ist. Und dass sie einfach wissen müssen, was wir Soldaten in ihrem Namen machen.“ In ein paar Tagen will Nadav Weiman wieder eine Tour durchs Westjordanland leiten, zum ersten Mal werden seine Eltern mit im Bus sitzen.
Da wird der Verweigerer Eyal Shifra noch im Gefängnis nahe Jerusalem seine Strafe verbüßen. Ihn hatte die Militärpolizei nach dem Rückflug direkt am Flughafen in Tel Aviv abgefangen. Er kam vor Gericht und wurde zu 21 Tagen Gefängnis verurteilt. Seinen Urlaub in Südfrankreich hatte er ohnehin nicht genießen können, wie er am Telefon erzählte: „Ich denke viel darüber nach, nicht nur über meine eigene Situation, sondern die des ganzen Landes.“
Das Militär prägt die Gesellschaft
Das Militär prägt die israelische Gesellschaft, den Dienst zu verweigern ist nicht erlaubt. Jeder Mann muss drei, jede Frau zwei Jahre nach dem Schulabschluss zum Wehrdienst. Ausgenommen sind bislang ultraorthodoxe Juden und arabische Israelis. Einige der Soldaten – vor allem die in Kampfeinheiten – sind verpflichtet, auch nach ihrem Dienst als Reservesoldaten für bis zu 36 Tage pro Jahr zur Verfügung zu stehen. Und das gilt bis sie 45 Jahre alt sind. Manche trainieren einmal im Jahr, um ihre Kenntnisse aufzufrischen. Oder sie werden angerufen, wenn wieder einmal Krieg ausbricht. Rund 82 000 Reservisten sind bislang für die Operation „Fels in der Brandung“ eingezogen worden.
Die Männer müssen innerhalb weniger Tage antreten, ihre Arbeit oder ihr Studium links liegen lassen und sich von ihren Familien auf ungewisse Zeit verabschieden. Kein Arbeitnehmer darf wegen des Reservedienstes entlassen werden – auch wenn er mehrere Wochen im Jahr fehlt. Als Entschuldigungen werden vom Militär Prüfungen an der Uni akzeptiert, gesundheitliche Probleme, die eigene Hochzeit oder ein Auslandsaufenthalt. Wer aus Gewissensbissen nicht nur einen Einsatz als Reservist, sondern seinen Grundwehrdienst verweigert, muss mit mehreren Monaten Gefängnis rechnen.
Eyal Shifra hat seine Pflicht erfüllt. Mit 18 Jahren leistete er seinen Wehrdienst in einer Panzertruppe im Westjordanland. „Das war 1999. Ich war mir sicher, dass die Besetzung bald enden würde.“ Seitdem führt ihn die Armee als Reservist in einer Wartungseinheit, die dem südlichen Kommando unterstellt ist. Im Jahr 2009 rief das Militär das erste Mal bei Shifra an – für die Operation Gegossenes Blei. „Bereits damals habe ich in schlaflosen Nächsten mit meiner Entscheidung gehadert.“ Doch er hatte Glück. Seine Einheit wartete tagelang vor dem Gazastreifen auf den Befehl, dann war die Operation auch schon zu Ende.
"Die Armee ist der König"
Der freie Journalist will die Militarisierung der israelischen Gesellschaft nicht mehr widerspruchslos hinnehmen. „Die Armee ist der König. Jeder kuscht, wenn sie etwas von dir will“, sagt er. Es könnte sich zwar auf seine Karriere auswirken, den Einsatz verweigert zu haben, aber das ist Shifra egal. „Ich will eh nicht für den Staat arbeiten.“
Nach der Schule hatte er Israel schon einmal verlassen, studierte und arbeitete sechs Jahre lang in England und Frankreich. Dort sah er, dass es nicht für alle jungen Menschen selbstverständlich ist, mehrere Jahre in der Armee zu dienen. Dass das Leben einer jungen Familie auch anders aussehen kann. Doch seine Frau wollte unbedingt zurück. Sonst, so sagt er, wäre er wahrscheinlich im Ausland geblieben.
Der Ausbruch der jüngsten Kämpfe habe ihn nicht weiter überrascht. „Diese Einsätze wiederholen sich ja alle drei, vier Jahre. Doch dieses Mal ist es sogar noch schlimmer.“ Jeder einzelne Soldat trage einen Teil der Verantwortung und er habe es endgültig satt, Teil dieses Systems zu sein. Rund 2000 Menschen sind bisher gestorben, sagt Shifra zum Abschied am Telefon. „Das hätte leicht verhindert werden können.“
*Name geändert
Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.