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Wladimir Putin fühlt sich immer blendend, sagt sein Sprecher.
© Mikhail Klimentyev/dpa

Coronakrise in Russland: „Die Behörden haben mehr Angst vor Panik als vor dem Virus selbst“

Russland hat verhältnismäßig wenige Infizierte. Doch es wächst die Kritik am Umgang der Behörden mit der Pandemie. Die bedroht zwei wichtige Ereignisse für Wladimir Putin. 

Seit nunmehr 20 Jahren füllt Wladimir Putin die Rolle des starken Anführers aus – daran soll sich auch in Zukunft nichts ändern. Schon gar nicht das Coronavirus. Russlands Präsident brauche keinen Coronavirus-Test, verkündete der Kreml-Sprecher zum Wochenende. „Gott sei Dank fühlt er sich immer blendend“, erklärte Dmitri Peskow.

[Die neuesten Entwicklungen und Hintergründe zum Coronavirus können Sie hier in unserem Newsblog mitverfolgen.]

Tatsächlich scheint Russland bislang weitgehend von der Pandemie verschont. Die Zahl der Infektionen lag am Samstag offiziell bei 306 – vergleichsweise wenig angesichts der mehr als 140 Millionen Russen, einer langen Grenze zu China, und einer reisefreudigen Mittelschicht in den Metropolen, die es in den vergangenen Wochen vielfach zum Skifahren nach Österreich oder Italien zog.

Allerdings ist die Zahl der Fälle in den vergangenen Tagen erheblich gestiegen, eine ältere Patientin starb infolge der Infektion. Inzwischen wachsen auch in Russland Sorgen – und Kritik. Supermarktregale sind leergekauft. Und selbst auf Putins Pläne zum Um- und Ausbau seiner Macht nimmt die Coronavirus-Krise immer stärker Einfluss.

Die von ihm angestoßene politische Neuordnung ist noch nicht abgeschlossen. Doch das Virus droht Putin das Finale zu verhageln.

Leere Regale nach Hamsterkäufen gibt es auch in Russland. 
Leere Regale nach Hamsterkäufen gibt es auch in Russland. 
© Tatiana Gomozova/REUTERS

Dabei dürfte es noch vor kurzem Wladimir Putin von einem gewissen Vorteil erschienen sein. Vor zehn Tagen schlug die frühere Kosmonautin und Duma-Abgeordnete Walentina Tereschkowa eine Verfassungsänderung vor, die Putins bisherige Präsidentschaften annullieren und es ihm erlauben würde, bei der Wahl 2024 erneut zu kandidieren.

Da die Verfassung von 1993 dies ausschließt, war zuvor gerätselt worden, wie Putin seinen Einfluss sichern wolle. Nun gab es plötzlich eine Antwort auf die Frage: Putin solle, so Tereschkowa, aufgrund seiner „enormen Autorität“ einfach wieder kandidieren, bisherigen Amtszeiten sollen auf null gesetzt werden.

Das russische Parlament und der Föderationsrat beschlossen die Gesetzesänderung im Eiltempo. Auch das Verfassungsgericht hatte freilich keine Einwände. Putin somit theoretisch bis ins Jahr 2036 Präsident bleiben. Er wäre dann 83 Jahre alt und 36 Jahre an der Macht.

Demonstrationen verboten

Die Kritik an diesem Verfassungscoup blieb verhalten – insbesondere aus dem Ausland; zu beschäftigt war man dort mit Coronavirus-Maßnahmen. Auch die russische Opposition kann wenig ausrichten. Zwar warfen Kritiker Putin sogleich einen „Staatsstreich“ vor. Moskaus Stadtverwaltung hatte da aber praktischerweise Veranstaltungen mit mehr als 5000 Menschen bereits wegen des Coronavirus verboten, das Demonstrationen ausschloss. „Für die Umsetzung der Verfassungsänderung ist der Virus ein Gottesgeschenk, das alles verdeckt“, kommentiert Jens Siegert, ehemaliger Leiter des Moskauer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung und langjähriger Landeskenner.

Arbeiter desinfizieren eine Tram in Sankt Petersburg.
Arbeiter desinfizieren eine Tram in Sankt Petersburg.
© OLGA MALTSEVA /AFP

Die Ausbreitung des Coronavirus ist derweil nach Ansicht des Kremlchefs unter Kontrolle. Grund für die relativ geringe Infektionszahl im größten Land der Erde seien die strengen vorbeugenden Maßnahmen in den Regionen und auch landesweit, sagte Putin.

Hintergrund über das Coronavirus:

Russland hatte zunächst seine Grenzen nach China geschlossen, seit einer guten Woche sind sie in alle Richtungen weitgehend dicht. Wer zuvor aus betroffenen Ländern einreiste, musste sich für 14 Tage in Selbstisolation begeben.

„In den ersten Wochen der weltweiten Pandemie haben wir es noch geschafft, die Massenausbreitung in Russland einzudämmen“, sagte Putin. Krankenhäuser, Ärzte und medizinisches Personal seien aber in hoher Alarmbereitschaft.

„Viele Menschen reagieren gelassen“, berichtet Siegert dem Tagesspiegel. „In Russland ist man im Gegensatz zu Deutschland an derart massive Krisen gewöhnt. Hier hat sich in den vergangenen dreißig Jahren alles verändert, und zwar mehrfach.“ Es sei zwar positiv, wenn die Menschen nicht in Panik geraten, sagt er, „aber auch negativ, dass sie das Virus nicht ernst nehmen.“

Große Unsicherheit im Land

Tatsächlich zeigt sich in einer aktuellen Umfrage des Zentrums für strategische Forschung jeder Zweite beunruhigt. Allerdings wissen nur acht Prozent der Befragten, wie sie sich richtig vor einer Infektion schützen können. Und jeder Fünfte mein fälschlicherweise, dass Antibiotika helfen werden.

Die Umfrage zeigt außerdem eine starke Unsicherheit darüber, dass das russische Gesundheitssystem mit der Epidemie fertig werden kann. Mehr als ein Drittel fürchtet, dass es für Russland schwierig sein wird, die Epidemie zu bekämpfen, vor allem aufgrund des Mangels an öffentlichem Bewusstsein und mangelnder Verantwortung.

Wartende Passagiere an einem Moskauer Bahnhof. Jedem zweiten Russen bereitet das Coronavirus Sorge. 
Wartende Passagiere an einem Moskauer Bahnhof. Jedem zweiten Russen bereitet das Coronavirus Sorge. 
© Dimitar DILKOFF/AFP

Am Samstag berichteten Medien über eine Fachärztin für Infektionskrankheiten, die nach einem Besuch in Spanien die Quarantänevorschriften gebrochen und mehrere Menschen in der südrussischen Stadt Stawropol infiziert haben soll. Hunderte Menschen, mit denen die Ärztin Kontakt hatte, seien nun unter Beobachtung, hieß es.

Sie selbst werde auf einer Isolierstation wegen einer beidseitigen Lungenentzündung im Krankenhaus behandelt. Gebietsgouverneur Wladimir Wladimirow teilte bei Instagram mit, dass bisher elf Menschen Symptome zeigten und in Quarantäne seien wegen des Verdachts auf eine Infektion mit dem Virus Sars-CoV-2.

Kritik an zögerlichen Maßnahmen

In Sankt Petersburg wurden Reliquien von Johannes dem Täufer ausgestellt. In einem Zeitraum von 8,5 Tagen hätten Berichten zufolge zwischen 70.000 und 130.000 Gläubige die Reliquien geküsst. Am vergangenen Wochenende skandierten Fußballfans des Sankt Petersburger Clubs Zenit in Sprechchören: „Wir werden alle sterben.“ Im Stadion rollten sie ein Banner aus, auf dem geschrieben stand: „Wir sind alle mit Fußball infiziert und werden für Zenit sterben.“ Erst zum Wochenbeginn wurde der Spielbetrieb der Liga gestoppt.

Erst nach Zögern schlossen die Behörden landesweit Schulen, zunächst hatte man die Kinder nur von der Schulpflicht befreit. „Man kann nur hoffen, dass die Regierung beginnt vernünftig zu handeln“, sagt Jens Siegert. „Ich gehe davon aber aus, allein um das eigene Überleben zu sichern.“ Im Internet fordern Prominente die Regierung zu stärkeren Maßnahmen auf. Jüngst machte das Gerücht die Runde, die Hauptstadt Moskau könnte bald unter Quarantäne gestellt werden, was die Stadtverwaltung allerdings dementiert.

Ein Moskauer Barkeeper hat einen Cocktail zum Coronavirus erfunden.
Ein Moskauer Barkeeper hat einen Cocktail zum Coronavirus erfunden.
© Evgenia Novozhenina/REUTERS

„Die Behörden scheinen hin und her- zu schwanken zwischen der immer dringlicheren Notwendigkeit einer Quarantäne und der Unmöglichkeit, solche Maßnahmen zu ergreifen“, kritisierte bereits vor einigen Tagen der Politikwissenschaftler Sergej Medwedew auf Facebook. Russland habe „nicht das Niveau an staatlicher und gesellschaftlicher Organisation, an Screenings, Tests, Ausrüstung, Disziplin und strikter Durchsetzung von Gesetzen, wie wir es in China und zum Teil auch in Italien gesehen haben“, schrieb er. Der Staat stehlen sich aus der Verantwortung, beklagt der Professor der renommierten Moskauer Higher School of Economics.

Angst vor Panik, nicht vor dem Coronavirus

Die für ihn zu zaghaften Maßnahmen seien ein Zeichen, dass „die Behörden mehr Angst vor Panik haben als vor dem Virus selbst“. Rein aus politischen Gründen sei es aber nicht möglich, den Notstand auszurufen. Zu wichtig seien zwei nahe Termine.

Zum einen ist dies der 22. April. Den Machterhalt will sich Putin von seinen Landsleuten absegnen lassen. Der Autokrat will seiner Machtausdehnung einen demokratischen Anstrich verpassen. Ende April ist deshalb ein Referendum geplant.

Knapp zwei Wochen später, am 9. Mai., will Russland an den Sieg im Zweiten Weltkrieg erinnern. Um den Rummel um die Erinnerung und die üblicherweise beeindruckende Militärparade will auch Präsident Putin profitieren. „Das alles sollte in der herrlichen Atmosphäre eines Nationalfeiertags stattfinden“, erklärte Medwedew, „nicht in einem postapokalyptischen Bühnenbild à la Wuhan, in Schutzanzügen.“

Inzwischen heißt es, die Volksabstimmung zur Verfassungsänderung könnte angesichts der Coronakrise auf mehrere Tage gestreckt werden. Man könnte die Möglichkeit zur Abstimmung vor dem angepeilten Wahltag am 22. April auch drei bis sieben Tage lang laufen lassen, sagte die Wahlleiterin Ella Pamfilowa.

Ein Mann mit Maske vor einem Banner zum 75. Siegestag. 
Ein Mann mit Maske vor einem Banner zum 75. Siegestag. 
© Dimitar DILKOFF / AFP

Darüber hinaus könnte die Abstimmung außerhalb der Wahlräume stattfinden. So könnten etwa lange Warteschlangen vermieden werden. „Das ist ein wirksames Mittel, um die Ausbreitung der Infektion zu verhindern.“

Kreml-Kritiker Alexej Nawalny, ein Gegner der Verfassungsänderung, forderte, die Volksabstimmung auch aufgrund des Coronavirus abzusagen. Ältere Menschen gehören zur Risikogruppe und könnten beim Gang ins Wahllokal ihr Leben riskieren. „Oder brauchen sie das, damit so viele alte Menschen wie möglich sterben, damit sie weniger Renten auszahlen müssen?“, fragte Nawalny mit Blick auf den Kreml.

„Das Virus ist hier schon längt angekommen“, warnt Medwedew. Nur wenige glaubten den „lächerlichen Zahlen“. In Russland werde „nicht nur die Verfassung und Putins Amtszeiten annulliert“, so der Politologe. „Sondern auch viele Leben, die man hätte retten können.“

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