Chemnitz, Sachsen und die rechte Gefahr: Franziska Giffey hat ein Zeichen gegen einen riskanten Trend gesetzt
Empathie mit den Opfern hilft mehr gegen die rechte Gefahr als mediale Dauerempörung. Ein Kommentar.
Nach Tagen der Dauerwarnungen vor Rechts, nach einer Woche, in der Talkshows nur ein Thema kannten – wie neonazistisch ist Chemnitz, wie rechtsradikal tickt Sachsen? – begann Franziska Giffey ihren Besuch in Chemnitz an dem Ort, wo mitfühlende Bürger ein Mahnmal aus Blumen und Kerzen für Daniel H. errichtet haben. Er war beim Stadtfest erstochen worden. Sie legte Blumen nieder und führte die Zuschauer dorthin zurück, wo unsere Augen und unser Mitgefühl zu allererst hätten sein sollen. Sie zeigte allen, die sich nicht selbst ein Bild machen konnten, dass es ein anderes Chemnitz gibt als das gröhlender Wutbürger.
Giffey zeigte das andere Chemnitz: Blumen und Kerzen
Viele hatten vor ihr das zutiefst Menschliche getan: ihre Trauer und Betroffenheit auszudrücken. Weil Giffey aber als erstes Regierungsmitglied kam und Kamerateams sie begleiteten, sahen viele Bürger anderswo erstmals auch dieses Chemnitz. Ihr Besuch am Freitag hat die Proportionen ein wenig zurecht gerückt. Am Samstag war es wieder umgekehrt: Bilder von der Konfrontation Rechts gegen Links dominierten.
Giffeys Antwort auf die politische Herausforderung hat eine strategische Dimension. Das zeigt ein Blick auf die USA. Seit einigen Jahren lassen sich Medien der liberalen Mitte bei den Berichten über Gewalttaten von dem Gedanken leiten: Die Opfer dürfen nicht untergehen im Rummel um die Täter und die Folgetaten. Ausführlich schilderten sie die kurzen Leben der Erstklässler, die in der Grundschule von Newtown, Connecticut, ums Leben kamen. Wenn Zeitungsleser und Fernsehzuschauer an den rechten Aufmarsch in Charlottesville denken, haben sie das Gesicht der jungen blonden Heather Heyer vor Augen, die ein hasserfüllter Rechter tötete, als er sein Auto in den Protestmarsch der Gegendemonstranten lenkte.
Die Opfer verdienen einen größeren Platz als die Täter
Präsident Obama beherzigte die Devise. Bei den Trauerfeiern für die Opfer der Kinoschießerei in Aurora, Colorado, und des Angriffs auf ein Bürgertreffen der Abgeordneten Gabby Giffords in Tucson, Arizona, sprach er über die Toten und nicht über das laxe Waffenrecht. Deutsche Beobachter waren irritiert. Viele Amerikaner fanden es richtig. Zuerst kommt die Trauer, später die Frage nach politischen Konsequenzen.
In Chemnitz war es umgekehrt. Die öffentliche Erregung über ein angeblich durchweg braunes Sachsen war größer als die Betroffenheit über einen gewaltsamen Tod. Wie viele Mediennutzer kennen nach einer Woche den Namen des Erstochenen? Wer hat sein Gesicht vor Augen? Wer kann Details aus seinem Leben erzählen?
Wiegt der Tod eines Menschen nicht schwerer als hässliche Demos?
Hierbei geht es weder darum, das Opfer groß zu machen, um über das Mitgefühl mit ihm Aversionen gegen die Täter zu erzeugen. Noch darum, die rechte Gefahr zu verharmlosen. Sondern darum, die Proportionen des Geschehens zu reflektieren. War der gewaltsame Tod eines Menschen nicht ein tieferer Einschnitt als die ersten Proteste, an denen sich anfangs nur wenige Hundert beteiligten? Hat die Art und Intensität des medialen Umgangs dazu beigetragen, Chemnitz zu der nationalen Bühne zu machen, auf der die Rechten sich inszenieren und breite Beachtung erreichen?
Am Tag, als Franziska Giffey die Blumen niederlegte, ergab eine Umfrage, dass drei Viertel der Deutschen die Demokratie durch Rechtsextreme gefährdet sehen. Wirklich? Halten sie unsere Demokratie für so instabil? Oder ist dies eher das Ergebnis pawlowscher Reflexe der Befragten auf eine zumindest in Teilen pawlowsche Art medialer Dauererregung?
Wenn Bürger das Vertrauen in Leitmedien verlieren
Zurück in die USA. Dort ist die Gesellschaft in zwei Lager gespalten. Sie nutzen unterschiedliche Medien und nehmen die Sicht des Gegenlagers nicht mehr zur Kenntnis. Die Besinnung darauf, dass die Opfer einen besseren Platz in unserer Erinnerung verdienen als die Täter, hat dies nicht verhindert. Natürlich nicht. Denn diese Korrektur kam spät. Das Unheil war bereits geschehen. Viele US-Bürger hatten bereits kein Vertrauen mehr in die Leitmedien, warfen ihnen vor, wichtige Aspekte ihres Alltags auszublenden – also: ein manipuliertes Bild zu zeigen. So war der rechtspopulistische Sender „Fox News“ entstanden als angeblicher Akt einer informationellen Selbstverteidigung.
Mitgefühl wirkt stärker als der moralische Zeigefinger
Die erste Woche nach der Messerstecherei in Chemnitz ist eine Mahnung, dass diese Gefahr auch in Deutschland besteht. Womöglich treibt eine zu aufgeregte Debatte über Rechts den Rechten noch die potenziellen Wähler zu, weil die sich in der Berichterstattung als verzerrte Fratze sehen.
Franziska Giffey hat ein Zeichen gegen diesen riskanten Trend gesetzt: Mitgefühl kommt zuerst. Es ist wirkungsvoller als der moralisch erhobene Zeigefinger.